Liebe Ukraine-Interessierte,
Im letzten Monat ist folgendes von unseren eigenen Aktivitäten zu berichten: Leider musste unser Runde Tisch Ukraine, der Belarus im Vergleich zur Ukraine gewidmet wäre, wegen des Corona-Lockdowns ausfallen. Ende Oktober verschickten wir den jährlichen Spendenaufruf für unsere Projekte, den ich hier anhänge; er fand ein gutes Echo, und wir hoffen, dass es so weitergeht. Im Nürnberger Haus in Charkiw fand im Hybrid-Modus -- teils direkt, teils digital-- eine interessante deutsch-ukrainische Lesung von Brecht-Gedichten statt die Serhiy Zhadan übersetzt hat; der Schauspieler Thomas Witte rezitierte auf Deutsch, und Serhiy Zhadan auf Ukrainisch. Ein Audiobuch ist dazu noch geplant. Das Nürnberger Haus hat auch mit der Charkiwer Media-Gruppe "Nakipelo" einen kurzen Film zu 30 Jahre Partnerschaft Nürnberg-Charkiw gedreht mit Kurzgedichten von Deutschkursteilnehmer/innen zu diesem Thema und einer Würdigung des deutschen Generalkonsuls Dr. Stefan Keil. Den Film findet man auf unserer Website www.charkiw-nuernberg.de.
In der Ukraine haben sich die Corona-Krise, die Verfassungskrise und eine allgemeine Richtungskrise noch mal verschärft. Die Kommunalwahlen, die mit einer sehr niedrigen Beteiligung erfolgten, geben auch wenig Anlass zu Optimismus. Vor allem die Partei des Präsidenten aber auch die europäische orienteirten Parteien gingen geschwächt hervor, während lokale starke Bürgermeister ihre Macht konsolidierten und Russland-freundliche Parteien zulegten. Dieses sind die Hauptthemen meiner LInksammlung neben Entwicklungen im Donbass, Umwelt- und Energiefragen und natürlich die Ereignisse in Belarus.
- Covid 19: Nach dem Covid-19 Tracker vom 01.12.20 gab es seit März insgesamt 745,123 Fälle , davon 377,403 aktiv, und 12,498 neue Fälle in den letzten 24 Stunden. 12,548 Personen sind an Covid-19 gestorben. Charkiw, Kyiv und Odesa sind die am schlimmsten betroffenen Städte und Gebiete. In Charkiw gibt es täglich zwischen 250 - 400 Neuinfektionen. Eine Reihe von Regierungs- und Parlamentsmitgliedern aber auch Bürgermeister und ihre Stellvertreter sind an dem Virus erkrankt, darunter Präsident Selensky selbst, der Gesundheitsminister Stepanov, die Bürgermeister Kernes von Charkiw. Die Lockdown und Quarantäneregeln sollen noch verschärft werden und eventuell bis in das nächste Jahr dauern; allerdings halten sich viele nicht daran, und die lokalen Politiker stellen sich gegen Regeln, die vom Zentrum kommen.
- Verfassungskrise und Korruption: Am 28. Oktober erklärte das Verfassungsgericht der Ukraine eine Reihe von Bestimmungen des ukrainischen Gesetzes "Über die Verhütung von Korruption" und die strafrechtliche Verantwortung für falsche Angaben bei der Einkommens- und Vermögenserklärung für verfassungswidrig. Damit wurde die elektronische Einkommens- und Vermögenserklärung für Staatsdiener praktisch abgeschafft. Die Europa-Abgeordnete Viola von Cramon fasst die Krise wie folgt zusammen: "Die Lage in der Ukraine ist mehr als alarmierend, da es mehreren korrupten Richtern gelungen ist, innerhalb weniger Tage die gesamten Strukturen zur Korruptionsbekämpfung, deren Aufbau Jahrzehnte gedauert hatte, zu zerstören. Das Fehlen solch unverzichtbarer Organe kann automatisch entsprechende Vertragsklauseln aus den Abkommen zwischen der EU und der Ukraine aktivieren und neben anderen Errungenschaften auch die Visafreiheit für das Land aufheben. Es wird nun immer offensichtlicher, dass die Richter nicht allein gehandelt haben. Neben dem persönlichen Interesse, die gegen sie geführten Ermittlungen des NABU (Nationales Anti-Korruptionsbüro der Ukraine) zu vereiteln, unterhalten diese Richter auch enge Verbindungen zu pro-russischen Kräften in der Ukraine sowie zu einigen einflussreichen Oligarchen." Präsident Selensky hat dagegen versucht alle Verfassungsrichter zu entlassen, wozu er aber verfassungsmäßig nicht befugt ist. Auf dem Spiel stehen auch westliche Kredite und die Visa-Freiheit. Diese Verfassungskrise gefährdet insgesamt die pro-demokratische und prowestliche Entwicklung der Ukraine, und bisher ist keine Lösung in Sicht.
- Weitere Entwicklung der Ukraine: Es wird immer deutlicher, dass Reformen in der Ukraine nur dann greifen können, wenn die Oligarchen ihre Macht verlieren. Zurzeit ist eher das Gegenteil zu erwarten.
- Lokalwahlen Hier eine Zusammenfassung von Andrè Härtel von "Ukraine verstehen": "Die Lokalwahlen vom 25. Oktober waren ein Test für die Dezentralisierungsreform und für die Präsidentenpartei. Am Ende triumphierten vor allem die lokalen Eliten, die von der nationalen Uneinigkeit der Bevölkerung und der niedrigen Wahlbeteiligung profitierten....Das wichtigste und augenscheinlichste Ergebnis der Lokalwahlen ist die Ausnüchterung der Ukrainer hinsichtlich des „Selenskyj-Phänomens" und die Abstrafung seiner seit den Parlamentswahlen Mitte 2019 allein regierenden Parteiformation." Dagegen sieht Michael Druckman vom Atlantic Council die Ergebnisse der Wahlen positiv als Erfolg der Dezentralisierungsreform und als ein Gewinn für lokale Politik. Ob die aber auch immer wirklich demokratisch ist??
Im Donbass durften 18 Gemeinden an der Frontlinie(ca. 500.000 Einwohner) an den Wahlen aus Sicherheitsgründen gar nicht teilnehmen, obwohl seit 2 Monaten ein Waffenstillstand herrscht, der nur selten verletzt wird. In der Region gehörten die prorussischen Parteien zu den großen Gewinnern. Es wurden sogar Kandidaten gewählt, die 2014 auf der separatistischen Seite standen, so in Slowjansk.
- Minskprozess Donbass. 2 neue Übergänge an der Kontaktlinie sind fertiggestellt worden, was Deutschland und Frankreich begrüßen und als positives Zeichen im Friedensprozess sehen. Allerdings ist die Pandemielage in den besetzten Gebieten dramatisch und außer Kontrolle; es gibt keine Medikmente, keine Ärzte und viele Todesfälle. Siehe auch den Artikel von Gerhard Gnauck in der FAZ im Anhang. Darüber hinaus haben die Menschen größte Schwierigkeiten, an ihre Renten und Gehälter zu kommen und leiden unter täglichen Entbehrungen. Amnesty verzeichnete auf beiden Seiten im Donbass gestiegene Gewalt gegen Frauen.
- Ökologie und Energiefragen: die Kyivpost hat dem Thema der drängenden Umweltproblemen in der Ukraine einen Podcast gewidmet, hier sei noch einmal darauf hingewiesen. Und die Zeitung beklagt in einem eigenen Kommentar, dass in der Ukraine der Umweltschutz und die ökologische Achtsamtkeit vor allem vom Gesetzgeber und den Bildungseinrichtungen völlig vernachlässigt werde. Recycling, schonender Umgang mit Resourcen und Abfallentsorgung müsste gesetzlich besser geregelt werden. Ausländische Investitionen zur Förderung erneuerbarer Energie werden auch durch die ukrainische Magnaten behindert: so beschuldigt ein wichtiger kanadischer Investor im Bereich Solarenergie den Oligarchen Kolomojsky, seine Anlagern unrechtmäßig gekapert zu haben.
- Odessa Hier ist eine sehr informative, hübsche und aktuelle Stadtbeschreibung: https://ukraineverstehen.de/regio-ukraine-odesa/
- Krim Wenn man besser verstehen will, wie es den Menschen auf der Krim heute geht, sollte man vielleicht das Buch von Nataliya Gumenyuk "Die Verlorene Insel" lesen, das Simone Brunner in ihrer Rezension wärmstens empfiehlt. Der Wassermangel auf der Krim führt zu einem neuen ernsten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine.
- Umgang mit dem Holodmor Noch ein Blick in die ukrainische Geschichte auf die Hungernot in den 30-iger Jahren des 20. Jahrhundert: Richard Herzinger fragt, warum der Bundestag sich nicht dazu durchringen kann, dieses Verbrechen Stalins als Völkermord anzuerkennen. https://herzinger.org/holodomor-stalins-hungermord-an-der-ukraine
- Belarus Die Zeitschrift Osteuropa berichtet von 450 politischen Gefangenen innerhalb der letzten viereinhalb Monate. Die weißrussische Opposition protestiert nach wie vor kreativ, mit kalkulierter Unberechenbarkeit und konsequenter Gewaltlosigkeit. Die OSZE hat die Wiederholung der Wahl gefordert wegen überwältigenden Beweisen von Wahlfälschung. Deutschland und die EU haben sich auf die Seite der Opposition gestellt und Sanktionen verhängt. Dagegen gehe Lukaschenka und seine Sicherheitsschergen mit immer größerer Brutalität gegen die Demonstrierenden vor. Ein junger Mann, Roman Bondarenko, wurde zu Tode geprügelt. Er ist inzwischen ein Märtyrer der Bewegung, was die Proteste noch verstärkt. Der Belorussische Journalistenverband ist von den Regierungen Großbritanniens und Kanadas mit dem Preis zur Medienfreiheit ausgezeichnet worden. Allerdings wird in Belarus ein regelrechter Krieg gegen Journalisten geführt, wogegen sich die Reporter ohne Grenzen entschieden wenden. So rufen sie das belarusische Regime dazu auf, die inhaftierte Belsat-Journalistin Kazjaryna Andrejewa sofort freizulassen und Medienschaffende nicht durch Strafverfahren an ihrer Arbeit zu hindern. Leider ist zurzeit kein Hoffnungsschimmer in Sicht.
- Russland: Gibt es eine Wende in der russischen Außenpolitik` Eine Art Abschied vom Russkij Mir? Wladimir Frolow sieht Zeichen dafür in Russlands neuerliche Zurückhaltung im Umgang mit den Krisen in Weißrussland und in Berg-Karabach. https://www.nzz.ch/meinung/abschied-vom-russki-mir-russlands-neue-aussenpolitik-ld.1586938?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE
Ich wünsche Ihnen eine ruhige, schöne Adventszeit und ein frohes Weihnachtsfest. Bleiben Sie gesund!
Beste Grüße
Antje Rempe