Gastkommentar

Abschied vom «Russki Mir»? – Über eine mögliche strategische Wende in der russischen Aussenpolitik

Russlands Zurückhaltung im Umgang mit den Krisen in Nagorni Karabach und Weissrussland ist auffällig. Nach und nach scheint sich Moskau ganz bewusst von einer Dominanz im postsowjetischen Raum zu verabschieden – einfach darum, weil der Preis dafür zu hoch ist.

Wladimir Frolow 13 Kommentare
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Russische Friedenstruppen im Anflug auf Nagorni Karabach.

Russische Friedenstruppen im Anflug auf Nagorni Karabach.

Russisches Verteidigungsministerium / EPA

Ohne viel Aufhebens zu machen, hat Russland seine Politik im postsowjetischen Raum geändert. Eine «Eurasische Union», eine «Zone privilegierter Interessen», der «Russki Mir», die regionale Dominanz, die Verteidigung einer Pufferzone vor den «Nato-Panzern und -Raketen» und die einzigartige Rolle als «Garant für Sicherheit und Souveränität» für die postsowjetischen Staaten gegen äussere Einmischungen – diese grossen Träume sind von der derzeitigen Agenda des Kreml verschwunden.

Solch grandiose Ideen existieren zwar in den Talkshows der Staatssender, aber diejenigen, die die russische Politik in den Regionen machen, bedienen sich viel realistischerer Narrative. Denn es herrscht die Meinung, dass der Traum von der russischen Dominanz im postsowjetischen Raum zwar eine gute Sache sei, aber der Preis für seine Verwirklichung viel zu hoch; de facto kann er nur in Ausnahmeszenarien realisiert werden – im Falle, dass existenzielle Staatsinteressen bedroht sind. In den meisten Fällen aber, und insbesondere dort, wo es keine gemeinsame Grenze mit Russland gibt, ist die postsowjetische Dominanz eher ein Luxus als ein Vehikel für nationale Entwicklungsziele.

Man ist dazu übergegangen, die Ambitionen im postsowjetischen Raum zu optimieren und eine Bestandsaufnahme der realen Bedürfnisse und ihrer Umsetzungsmöglichkeiten vorzunehmen. Moskau «wägt ab, was sinnvoll ist und was nicht», sagt der Kreml-Kenner Fjodor Lukjanow. Zu einem grossen Teil ist das auf die Analyse der russischen Aktionen in der Ukraine, Georgien und Syrien zurückzuführen.

Was haben wir davon?

Der neue russische Ansatz in postsowjetischen Angelegenheiten lässt sich im Wesentlichen auf drei Frames herunterbrechen: Wozu? Was habe ich davon? Wie trete ich möglichst nicht in «dumme Scheisse»? (Letztgenanntes in Anlehnung an die aussenpolitische Doktrin Barack Obamas «Don’t do stupid shit».)

Das Konzept der «strategischen Zurückhaltung» Russlands im postsowjetischen Raum lässt sich an Wladimir Putins letztem Auftritt beim Waldai-Forum ablesen, bei dem der Präsident Ruhe und Gelassenheit demonstrierte, während er akute Krisen im nahen Ausland erörterte.

Die zeitlich parallelen Unruhen in Weissrussland und Kirgistan sowie das Wiederaufflammen eines echten Krieges zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Nagorni Karabach sind ein guter Stresstest für die neue russische Strategie, und bis jetzt hält sie ihm stand.

Weissrussland: keine unumkehrbaren Schritte

In Weissrussland legt Moskau Selbstbeherrschung an den Tag – bei gleichzeitiger Wahrung des Handlungsspielraums. Noch bis vor kurzem glaubte man, ein drohender Regimewechsel infolge einer Farbrevolution in einem Staat, der durch ein Netz von Bündnisverpflichtungen an die Russische Föderation gebunden ist und Russland physisch von der Nato trennt, würde eine militärische Intervention Moskaus auslösen. Dadurch wären Proteste zu unterdrücken, oder es wäre zumindest ein hybrider Krieg möglich, um marionettenhafte Pufferstaaten analog der Donezker Volksrepublik und der Volksrepublik Luhansk zu schaffen. Doch eine Wiederholung des ukrainischen Szenarios hat es nicht gegeben.

Moskau hat den Wahlkampf in Weissrussland aufmerksam verfolgt und wusste sehr gut, womit das alles enden könnte. Die Frage war lediglich, ob Lukaschenko seine Macht unmittelbar unter dem Druck der Strasse verlieren würde (was dem Kreml natürlich überhaupt nicht geschmeckt hätte) oder ob es gelingt, «den Prozess zu strukturieren» und Moskau den Weg in die weissrussische Politik zu ebnen.

Am Ende entschied man sich für eine zurückhaltende Linie: schickte Lukaschenko wärmsten TV-Support (na ja, und noch ein bisschen mehr), signalisierte die Bereitschaft, sich «im Falle von Massenunruhen» einzumischen (ohne darauf die geringste Lust zu haben und völlig im Klaren darüber, dass eine direkte Einmischung einen antirussischen Protest konsolidieren würde), blockierte die Vermittlerrolle des Westens und riet den Demonstranten, «zu Lukaschenko zu gehen und ihn nach einer Verfassungsreform zu fragen».

«Dekoder» – deutsche Stimme des liberalen Russland

zz. · Die unabhängige und gemeinnützige Internetplattform Dekoder.org macht dem deutschsprachigen Publikum im Wochenrhythmus Texte unabhängiger, liberaler russischer Medien zugänglich. Zugleich erschliesst sie den Lesern durch wissenschaftliche Kontextartikel die Realität Russlands. Ziel ist es, die im deutschsprachigen Raum geführten Russland-Debatten durch journalistischen O-Ton zu bereichern. Ein besonderes Augenmerk liegt hierbei auf unabhängigen, nicht vom russischen Staat finanzierten und kontrollierten Internetmedien.

Russland hat es geschafft, unumkehrbare Schritte zu vermeiden, die in eine Sackgasse geführt und die Kosten in Form von neuen Sanktionen aus dem Westen in die Höhe getrieben hätten. Durch die Absage an eine zu aktive Einmischung in die Krise und an ein direktes gewaltsames Vorgehen in Weissrussland konnte eine Destabilisierung innerhalb Russlands verhindert werden. Indem Russland westliche Forderungen nach einem «nationalen Dialog» unter OSZE-Vermittlung verhinderte, hat es diese Vermittlerrolle selbst eingenommen. Nicht zuletzt hat die zurückhaltende Reaktion auf die weissrussische Krise Moskau einen besonnenen Blick auf das Projekt des Staatenbundes ermöglicht: Ist dieser wirklich so vorteilhaft für Russland, oder birgt er nicht auch ein Risiko für die russische Staatlichkeit? Alles, was einen Staatenbund ausmacht, lässt sich auch innerhalb der Eurasischen Wirtschaftsunion verwirklichen.

Selbst der Wert eines Militärbündnisses mit Weissrussland stellt sich in neuem Licht dar. Die Bedrohung durch die Nato – das sind nicht die polnischen Panzer vor Smolensk, sondern amerikanische luft- und bodengestützte Hyperschallraketen mittlerer Reichweite in Zentraleuropa. Ist es für die Verteidigung Russlands da nicht sicherer, die 100 Milliarden Dollar an Öl- und Gassubventionen für Weissrussland darauf zu verwenden, den ganzen europäischen Teil des Landes mit Iskander-M-Raketen und S-400-Flugabwehrsystemen zu überziehen (und so die eigenen Fabriken mit Aufträgen auszulasten)? Klar ist, dass es in Minsk nach der Krise keine Rückkehr zum Status quo geben wird, und die «neue russische Zurückhaltung» ermöglicht es, in aller Ruhe abzuwägen, wie es nun weitergehen soll.

Nagorni Karabach: keine nationalen Interessen

Hier hat Moskau eine Beteiligung auf dieser oder jener Konfliktseite vermieden, auch wenn die von der TV-Propaganda angeheizte Polemik in Russland bereits bedrohliche Ausmasse annimmt.

Moskau gibt zu verstehen, dass der Konflikt um die Region Nagorni Karabach weder einen direkten Bezug zu Russland hat noch seine nationalen Interessen berührt. Zwar stellt Putin die aus der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) resultierenden Bündnisverpflichtungen gegenüber Armenien nicht infrage, doch in Wirklichkeit überdenkt Moskau den Nutzen eines solchen Bündnisses, dessen Vorteile für Armenien auf der Hand liegen, nicht jedoch für Russland.

Die Beziehungen zu Aserbaidschan haben für Russland einen eigenständigen Wert und werden nicht durch das Prisma der armenischen Interessen betrachtet. Dieser Wert wird dadurch bestimmt, dass die russisch-aserbaidschanische Grenze durch eine äusserst heikle Region verläuft: Dagestan und das Kaspische Meer. Die Ruhe an dieser Grenze und die enge Zusammenarbeit mit dem Nachbarn, um diese Ruhe zu gewährleisten (damit es nicht wieder so wird wie in den neunziger Jahren und Anfang der nuller Jahre), sind nicht weniger wichtig als die Bündnisverpflichtungen gegenüber Armenien.

Es ist Moskau ein Dorn im Auge, dass beide Seiten versuchen, Russlands Position zu ihren Gunsten zu manipulieren, und Russland auf diese Weise Probleme bereiten. Zu eindeutig nutzt Aserbaidschan das Thema der russischen Anti-Terror-Operationen in Tschetschenien und Dagestan, um separatistische Tendenzen im eigenen Land abzuwehren. Macht man diese Position zu einem unumstösslichen Prinzip, dann entkräftet man die Argumente Russlands in Bezug auf den Donbass und die Krim und verstärkt im Gegenzug die der Ukraine.

Armenien hat schon unter der damaligen Führung das russische Vorgehen auf der Krim im Jahr 2014 zu sehr als Freibrief für eine schrittweise «Wiedervereinigung» durch eine «Selbstbestimmung des karabachischen Volkes» gewertet. Und auch wenn Sergei Lawrow erklärt, dass gemäss Uno-Charta das «Selbstbestimmungsrecht der Völker an zentraler Stelle steht und die territoriale Integrität und Souveränität respektiert werden müssen», ist Moskau lediglich bereit, dieses rechtliche Novum auf die Krim (und Abchasien und Südossetien) anzuwenden, aber nicht auf Nagorni Karabach (und nicht einmal auf den Donbass).

Russland - Türkei: eine symbiotische Beziehung

Moskau wird sich wegen des penetranten Eindringens der Türkei in den postsowjetischen Raum und deren Anspruch auf Beteiligung an einer Regulierung in Nagorni Karabach nicht auf einen bewaffneten Konflikt mit ihr einlassen, trotz den laut werdenden Aufrufen, zu den Waffen zu greifen und «ein neues Chalchin Gol» herbeizuführen. Russland und die Türkei befinden sich bereits in einer symbiotischen Beziehung, in der beide Seiten für die jeweils andere lebensnotwendig sind, um entscheidende aussenpolitische Ziele durchzusetzen. Für Moskau ist es von zentraler Bedeutung, dass Erdogan seine Linie der werte- und geopolitischen Opposition zum Westen fortsetzt, was den Westen von einer Konfrontation mit Russland ablenkt, zu einem «Hirntod der Nato» führt und die Wichtigkeit einer Zusammenarbeit Europas mit Moskau im Nahen Osten und im Mittelmeerraum erhöht.

Es gibt nur zwei Minen, die die russisch-türkischen Beziehungen sprengen könnten: erstens eine Ausweitung der militärtechnischen Zusammenarbeit zwischen Ankara und der Ukraine (Produktion von Drohnen, Lieferung von Hochpräzisionswaffen und Lobbyarbeit für einen Beitritt der Ukraine und Georgiens zur Nato). Und zweitens die aggressive Propagierung eines Panturkismus und des politischen Islam innerhalb Russlands. Die Verstärkung der türkischen Präsenz im Südkaukasus ist eine vollendete Tatsache, und das Einzige, was Moskau interessiert, ist, dass Erdogan die roten Linien nicht überschreitet.

Neue aussenpolitische Doktrin

Ausformuliert bedeutet die neue aussenpolitische Doktrin des Kreml etwa Folgendes: nur das absolute Minimum tun, das sich aus Vertragsverpflichtungen ergibt; Ausgaben für das Krisenmanagement minimieren; «brüderliche Hilfe» leisten; nach und nach «die Last der postsowjetischen Führung» reduzieren; als Bedingung für russische Hilfe möglichst konkrete Schritte des Empfängers dahingehend vereinbaren, dass er sich und seine Souveränität den geopolitischen Zielen Moskaus unterordnet; die Bündnisverpflichtungen Russlands einer gründlichen Prüfung unterziehen, sie anpassen und die Formate der russischen Beteiligung konkretisieren; nichts tun, was die innenpolitische Lage in Russland destabilisieren könnte, auch nicht durch eine zu aktive Beteiligung Russlands an den inneren Krisen seiner Nachbarn oder eine unreflektierte Ausweitung bestehender Integrationsbündnisse.

Weiter: nicht zulassen, dass die russische Aussenpolitik durch «Bruderrepubliken» und ihre «russländische Diaspora» zugunsten von deren Interessen manipuliert wird, die sich nicht immer mit den russischen decken; keine weiteren Sanktionen aus dem Westen auf sich laden wegen eines postsowjetischen «Anhängsels» der Russischen Föderation; keine Schritte unternehmen, die Russlands Handlungsspielraum einschränken oder einen Rückzug ohne Gesichtsverlust unmöglich machen und in eine Sackgasse führen (vergleiche «stupid shit»); nicht gegen Windmühlen der inneren Destabilisierung postsowjetischer Staaten ankämpfen.

Sodann: Toleranz für einen gewissen Grad an Instabilität in den Regionen entwickeln; von einem übermässig aktiven Kampf gegen die Farbrevolutionen Abstand nehmen; sich der eigenen Möglichkeiten und Ressourcen bewusst sein sowie ihrer Unzulänglichkeit, einen entscheidenden Effekt auf regionale Krisen auszuüben – abgesehen von Situationen, die unmittelbar die Sicherheit der Russischen Föderation bedrohen; anderen regionalen Playern stillschweigend «eingeschränkte Interessen» im postsowjetischen Raum zugestehen – und einen Modus Vivendi mit ihnen suchen, ohne einen Fetisch aus der «russischen Dominanz» zu machen; dominant nur dort sein, wo es einen ohne Dominanz teuer zu stehen kommt, und nicht einfach nur aus Prinzip anerkennen, dass der Aufstieg der Russischen Föderation zu einer Grossmacht in anderen Regionen der Welt (dem Nahen Osten, Nordafrika und dem östlichen Mittelmeerraum) zu einer Abhängigkeit von anderen Regionalmächten führt, die wiederum die Handlungsfreiheit im postsowjetischen Raum einschränkt.

Schliesslich: sich aller Risiken und Gefahren einer direkten militärischen Konfrontation mit «aufstrebenden Regionalmächten» bewusst sein – im Unterschied zu einer simulierten «kontrollierten Eskalation» mit den USA, der Nato oder der EU, wo ein Militäreinsatz grundsätzlich unmöglich ist; sich über all das «keinen Kopf machen», auch wenn die internationale Presse sich mit Schlagzeilen über den schwindenden Einfluss Russlands in seiner eigenen Einflusssphäre überschlägt.

Wladimir Frolow ist ein russischer Politologe und Aussenpolitikexperte. Der Text ist übernommen von «Dekoder» und geht zurück auf einen Beitrag im Onlineportal «Republic». — Gekürzte Fassung, übersetzt aus dem Russischen von Jennie Seitz.

13 Kommentare
Matthias Schäfer

Sollte diese Analyse der russischen Außenpolitik zutreffen wäre es Putin gelungen, mit Realitätssinn und Konsequenz  ,für Russland das maximal Mögliche bei minimalem Einsatz zu erreichen  und  sich trotzdem alle entscheidenden Optionen im Weltgeschehen offen zu halten. Verwunderlich das derart klar Strukturierte  Umsetzungen eigener Kerninteressen in der westlichen Hemisphäre seit langem nicht zu erkennen sind. Verwunderlich und  im Hinblick auf die eigenen Kompetenzen geradezu Beängstigend. 

Ingo Schadt

Danke für diesen informierten und analytisch scharfen Artikel. Es scheint, dass sich in Russland inzwischen eher eine Denkweise realistischer Prägung durchgesetzt hat. Vielleicht wäre noch ein Aspekt zu erwähnen: In Ergänzung zur Instrumentalisierung der Politik durch einen sehr teuer bezahlten modernen Waffenmix stehen Möglichkeiten der hybriden "Kriegsführung". Den Gegner schwächen durch innenpolitische Destabilisierung liegt ganz in der Logik dieser Teilstrategie. Hier wäre zu fragen, ob dabei dysfunktionale Risiken und Nebenwirkungen inzwischen erkannt sind.  Auch die Kooperation bei Makro-Infrastruktur im Energiebereich gehört zur Strategie des Rohstoffgiganten Russland. Die Möglichkeiten rohstoffabhängige Länder damit politisch zu desintegrieren, sollten nicht unterschätzt werden. In Deutschland wird uns das Problem bald auf dem Silbertablett serviert werden.