Gastkommentar

Unruhe nach dem Sturm – wie die weissrussische Opposition die Proteste mit der Taktik kalkulierter Unberechenbarkeit friedlich zu halten versucht

Seit Monaten protestieren die Weissrussen gegen das diktatorische Lukaschenko-Regime, das sich die Macht nur durch Wahlfälschungen sichern konnte. Um Putin keinen Vorwand zur Intervention zu liefern, setzt man bis anhin konsequent auf Gewaltlosigkeit und Kreativität.

Yaraslava Ananka und Heinrich Kirschbaum
Drucken
Die Volksproteste gegen Alexander Lukaschenko in Weissrussland sind keine Spirale der Gewalt, sondern Gegenwehr.

Die Volksproteste gegen Alexander Lukaschenko in Weissrussland sind keine Spirale der Gewalt, sondern Gegenwehr.

AP

Nach den brutalen Nächten vom 9. bis 13. August, als 8000 Menschen verhaftet, Hunderte von ihnen gefoltert und mindestens fünf getötet wurden, änderte die Opposition in Weissrussland die Protestformen. Intuitiv, aber deswegen nicht weniger strategisch. Es formierte sich schnell ein Ethos programmatischer Gewaltlosigkeit. Beeindruckende Bilder und Selbstbilder von ausschliesslich friedlichen Weissrussen, die nach Abschluss ihrer Aktionen sogar den Müll aufsammeln, gingen um die Welt und gewannen zusätzlich an Kraft im Kontrast zu den Szenen der unfassbaren Gewalt, die auf Lukaschenkos Befehl von seinen Sicherheitskräften verübt wurde.

Der Preis für die Konsolidierung, den die Opposition zwei Monate lang zu zahlen bereit war, war eine Homogenisierung des Widerstands. Diejenigen Stimmen, die nach anderen, im postsowjetischen Raum erprobten Protestformen riefen, wurden entweder ignoriert oder als Provokationen eingestuft. Ähnlich funktionierte es auch mit dem Russland-Tabu: Aus taktischen Erwägungen oder aus geopolitischer Naivität wollte man zunächst Putins Reich, das vor nicht allzu langer Zeit Teile der Ukraine überfallen hatte, lieber nicht erwähnen. Auch dann nicht, als der Kreml sich offen auf die Seite von Lukaschenko stellte, russische Journalisten zum Propagandakrieg nach Minsk schickte und die Präsidentschaftskandidatin der Opposition, Swetlana Tichanowskaja, zur Fahndung ausschrieb. Die Rhetorik spricht in solchen Fällen von der Figur des Verschweigens, der Volksmund würde eher sagen: Sicher ist sicher – man soll den Teufel nicht beim Namen nennen.

Eskalierende Brutalität

Man wollte jegliche Parallelisierung mit anderen Protesten vermeiden und einen eigenen Weg gehen: jenen der prinzipiell friedlichen Proteste, und rund um diesen Imperativ der Gewaltlosigkeit setzte sich Tag für Tag eine neue zivilgesellschaftliche Dissens-Bewegung in Szene. Man entdeckte sich selbst als Volk und als Subjekt, und diese Subjektwerdung gehört zweifellos zu den wichtigsten und langfristig unumkehrbaren Errungenschaften der weissrussischen Proteste.

Die weissrussische Opposition folgt dem taktischen Gebot des kalkulierten Zufalls: Alles ist möglich, aber nix ist fix.

Die Gewalt des Staates nahm und nimmt jedoch zu. Verhaftete und misshandelte man anfangs hauptsächlich Männer, so wurden ab Anfang September auch Frauen, die wöchentlich zum Protest auf die Strassen gingen, brutal festgenommen. Es folgten die Studenten. Bei der Rentnerdemonstration am 12. Oktober in Minsk wurde Tränengas eingesetzt, und beim Marsch der Menschen mit Behinderung am 15. Oktober wurden zwar keine Teilnehmer festgenommen, jedoch der Jurist der Gesellschaft für behinderte Menschen, der die Kolonne begleitete. Die Sicherheitskräfte versuchen, bei jeder kleinsten Aktion Omnipräsenz zu zeigen, auch indem sie irgendjemanden «exemplarisch» verhaften. Diese Strategie schliesst gezielte Festnahmen von Aktivisten diverser Protestinitiativen keineswegs aus.

«Männer – Studierende – Frauen – Rentner – Menschen mit Behinderung»: In dieser Steigerung des Wehr- und Furchtlosigkeitsprinzips spiegelt sich die zu Beginn der Proteste anvisierte Friedlichkeitsstrategie, der Grad der Entschlossenheit, aber auch der Verzweiflung.

Weissrussische Sicherheitskräfte, Schild bei Fuss.

Weissrussische Sicherheitskräfte, Schild bei Fuss.

Reuters

Erst die Fahne, dann das Feuer

Parallel dazu nehmen andere Formen des Dissenses Gestalt an. Als sich die Bilder der polizeilichen Gewalt gegen die alten Menschen auf den sozialen Netzwerken schnell verbreiteten, ging man noch am selben Abend spontan auf die Strasse und versuchte, diese zu blockieren. Reifen wurden verbrannt: als Symbol, aber die Bedeutung von Symbolen ist in Zeiten dramatischer Umwälzungen nicht zu unterschätzen. Damit wurde auch das Feuer zu den akzeptierten Sinnbildern des Protests.

In den sozialen Netzwerken – dem wichtigsten Koordinationsmedium des weissrussischen Widerstands – gibt es scharfe Diskussionen über die Legitimität und Effizienz auch anderer, weniger friedlicher Protestformate. Zwar ist jedem klar, wie kostbar und fragil der interne Konsens über die Gewaltlosigkeit ist und dass jede unbedachte Aktion ihm schaden könnte. Aber vielen ist auch bewusst, dass es unmöglich ist, alles kontrollieren zu wollen, was die Propagandamaschinerie der weissrussischen und russischen Staatsmedien zur Diskreditierung der Proteste missbrauchen könnte. Ein Schwein findet überall Dreck, wie ein russisches Sprichwort sagt.

Und was heisst schon diskreditieren? Teilnehmer und Sympathisanten des Protests haben sich längst formiert, nun gilt es, die Aufgaben zu verteilen: Die einen sollen weiter mit Blumen auf die Demonstrationen gehen, jedoch nicht den anderen das Recht nehmen, anders aufzubegehren, etwa indem man Autos von Offizieren der Sicherheitskräfte beschädigt oder, wie in der Nacht vom 12. auf den 13. Oktober geschehen, das Geburtshaus des berüchtigten Kommandeurs der Minsker Spezialeinheiten Dmitri Balaba in Brand setzt.

Das ist keine Spirale der Gewalt, das ist Gegenwehr. Denn es ist offensichtlich, dass Lukaschenko mit allen Mitteln versucht, die zur Dauerauseinandersetzung gewordene Situation möglichst bald für sich zu entscheiden. Sein zynisches Treffen mit inhaftierten Oppositionellen im Gefängnis wurde als Zeichen der Schwäche oder gar des Schwachsinns des weissrussischen Herrschers von eigenen Gnaden interpretiert, und die gnädige Erlaubnis, Swetlana Tichanowskaja mit ihrem Mann (zum ersten Mal seit seiner Festnahme Ende Mai) sprechen zu lassen, deuteten viele ebenfalls als ein weiteres Symptom von Lukaschenkos immer erratischer werdendem Verhalten. Von diesem Telefonat blieb den Weissrussen vor allem dies in Erinnerung: Sergei Tichanowskis klare und lakonische Antwort auf die Frage seiner Frau, wie man weiter vorgehen solle: «Härter.»

Und so vergingen keine drei Tage, bis Tichanowskaja ein Volksultimatum verkündete: Sollte Lukaschenko nicht bis zum 25. Oktober drei Forderungen erfüllen: Rücktritt, Freilassung der politischen Gefangenen und ein Ende der Repression, würde ein Streik aller Betriebe beginnen und der Verkehr im ganzen Land blockiert werden. Von der Seite des Innenministeriums häuften sich als Reaktion darauf die Drohungen, bei Bedarf auf die Demonstranten mit scharfer Munition zu schiessen. Die Lage spitzte sich zu. Es sah danach aus, dass beide Parteien zur entscheidenden Schlacht antraten.

Auf gepackten Koffern

Das Volksultimatum ist abgelaufen, seine Forderungen wurden nicht erfüllt. Es war kein Bluff, sondern ein indirekter und direkter Aufruf, alle Kräfte zu mobilisieren, nochmals an sich selbst zu glauben. Bereits in den Tagen vor dem Ablauf des Ultimatums gab es eine relative Ruhe vor dem Sturm. Einige warteten geduldig auf den 26. Oktober, die anderen wurden tätig: Man überlegte sich für den Stichtag diverse Aktionen: konkrete, aber auch potenzielle. Es ist die schwer zu kontrollierende Möglichkeitsform der Proteste, die Lukaschenkos Mannen am meisten verärgert und verwirrt.

Bereits im September veröffentlichten Cyberpartisanen auf Telegram Listen und Wohnadressen von zweitausend Mitarbeitern des Innenministeriums. Aus internen Quellen ist bekannt, dass deren Angehörige seitdem auf gepackten Koffern sitzen. Für den Notfall, der zwar unwahrscheinlich ist und doch jeden Tag eintreten kann. Nun, gleich nach der Bekanntgabe des Ultimatums, kündigte man eine neue Route des Frauenmarsches an: hin zu den Wohnhäusern der Polizisten. Der Aufruf war mit der Anmerkung versehen: «Der Ort und die Route der Aktion können sich ändern (oder auch nicht).» Die Taktik der weissrussischen Kommunikationsguerilla folgt dem Gebot des kalkulierten Zufalls: Alles ist möglich, aber nix ist fix.

Der reguläre Minsker Sonntagsmarsch am 18. Oktober verlief diesmal auf der Partisanenavenue. Wegen des Namens. Die Sowjetherrscher und dann das Lukaschenko-Regime haben jahrzehntelang die Geschichte Weissrusslands auf den Partisanenkrieg während des sogenannten Vaterländischen Krieges reduziert. Nun wird dieses neosowjetische Klischee von den Protestierenden ironisch übernommen.

Keiner konnte voraussehen, was in Weissrussland dieses Jahr geschehen ist: weder Historiker mit ihren postfaktischen Kausalisierungen noch Politologen mit ihren Faktoren oder Soziologen mit ihren Statistiken. Mehr als zwei Monate nach dem Beginn der Proteste scheint die Prognostizierbarkeit der Ereignisse indes ein wenig besser geworden zu sein: In den kommenden Tagen und Wochen werden mit Sicherheit neue überraschende Wendungen in der immer offener und zugleich konspirativer werdenden Konfrontation zwischen der weissrussischen Freiheitsbewegung und dem Lukaschenko-Regime zu erleben sein.

Die Übersetzerin und Literaturwissenschafterin Yaraslava Ananka ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied des weissrussischen PEN-Zentrums. Heinrich Kirschbaum lehrt slawische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Freiburg i. Br. und ist Ehrenmitglied des weissrussischen PEN-Zentrums.

Weitere Themen