Wir sind es den Opfern schuldig, an das Massaker von Babyn Jar zu gedenken

Nur Monate nach dem Überfall auf die Sowjetunion verübten die Deutschen eines der größten Verbrechen des Zweiten Weltkriegs. Heute jährt es sich zum 80. Mal.

Gedenken am Mahnmal in Babyn Jar.
Gedenken am Mahnmal in Babyn Jar.

Berlin-Selbst wenn man nie etwas anderes über den Holocaust gehört hätte, als die Geschichte der 48 Stunden von Babyn Jar, würde man so unglaublich und so endlos traurig, dass einem die Worte im Hals stecken blieben und die Tränen übers Gesicht fließen würden. Das Massaker in der Schlucht von Babyn Jar bei Kiew, das sich in diesem Jahr zum 80. Mal jährt, ist eine Katastrophe in der Katastrophe.

Der Massenmord gehört zum Auftakt des barbarischen Feldzugs der Deutschen gegen die Sowjetunion und ist eine von vielen bestialischen Episoden im Holocaust. Betont werden muss, dass sich diese industrielle Mordorgie am 29. und 30. September 1941, bereits vier Monate vor der Wannsee-Konferenz in Berlin ereignete. Erst dort wurde bekanntlich die ,,Endlösung der Judenfrage“ beschlossen, also der industrielle Völkermord an den europäischen Juden. Mehr als 33.000 Frauen, Männer und Kinder wurden an jenen zwei Tagen bei Kiew von den Deutschen ermordet.

Beim diesjährigen Filmfestival von Cannes widmet sich der vielprämierte ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa in der Dokumentation ,,Babyn Yar - Kontext“ diesem vielschichtigen Thema. Mit historischem Archivmaterial bereitet er den Schrecken des Ereignisses virtuell auf. Ausschnitte aus dem Kiewer Prozess von 1946 zeigen verstörende, fast unerträgliche Berichte sowohl der Opfer als auch der Täter. 

Das Zeugnis einer Überlebenden

Die junge Dina Pronicheva etwa schilderte eindrucksvoll und detailliert den Ablauf dieses Massakers, bei dem sie überlebte, weil sie sich totstellte. Mit fester Stimme erzählt sie von ihrem Überlebenskampf in der Schlucht und dem Schrecken, der ihr und vielen anderen widerfahren ist. Dieses Zeugnis ist wahrhaftig historisch und persönlich bewegend. Ebenso zeigt Loznitsa die von Selbstmitleid geprägten Erzählungen deutscher Täter vor dem Kiewer Gericht. Hitlers willige Vollstrecker schildern den Ablauf ihrer Taten und vor allem die enorme psychologische Belastung, der sie angeblich ausgesetzt waren. Sie beschweren sich über den enormen Alkoholkonsum ihrer Kameraden, ein Umstand, der übrigens der jungen Dina half, unbemerkt aus der mit Leichen überschütteten Grube herauszukommen.

Später wurde den Opfern auch noch das Recht auf Totenruhe genommen. Einige Jahre nach dem Massaker, nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad, wollten SS-Schergen in der sogenannten Enterdungsaktion 1005 alle Spuren vertuschen. Die Leichen wurden nach Wertgegenständen durchsucht, auf Leichenberge gelegt und verbrannt. Anschließend wurden in einer dafür extra angefertigten Knochenmühle die letzten Reste zu Asche zermahlen.

Die Sowjetunion nannte die jüdischen Opfer nicht

Nach dem Kriegsende hat die Erinnerungspolitik der Sowjetunion die Verbrechen in Babyn Jar lange von der Öffentlichkeit verborgen. Wenn aber dennoch von diesem Ort gesprochen wurde, vermied man es zu erwähnen, dass gezielt Juden ermordet worden warnen. Die Rede war lediglich von sowjetischen Bürgern. Die Schlucht wurde in Teilen zugebaut.

Erst eine Flutkatastrophe in den 1960er Jahren hat in Babyn Jar den alten Schrecken aus der Erde wieder hervorgebracht. Nach großen Regenfällen war ein Staudamm gebrochen, die Gegend überschwemmte, mehr als hundert Menschen starben, unzählige wurden verletzt. Die sowjetische Führung verschwieg das Ausmaß auch dieser Katastrophe. Augenzeugen berichten von Knochenresten und Schädeln, die nach der Flut an die Oberfläche von Babyn Jar gelangt sind.

Der sowjetische Dichter Jewgenij Jewtuschenko hatte im selben Jahr, 1961, das Stillschweigen gebrochen und ein für die Zeit skandalöses Gedicht über das Massaker von Babyn Jar verfasst. Das Gedicht beginnt mit den Worten ,,Über Babyn Jar, da steht keinerlei Denkmal“. Jewtuschenko beklagte den Umstand, dass es keinerlei Form von Erinnerung an eines der größten Massaker des Zweiten Weltkrieges gab. Paul Celan übersetzte das Werk ins Deutsche, Dimitri Shostakovich verfasste die gleichnamige 13. Symphonie.

Doch der Regisseur Sergei Loznitsa möchte nicht nur in die Vergangenheit schauen. Er ist mit der Dokumentation ebenso bemüht, die ukrainische Gesellschaft zu sensibilisieren und aufzuklären. Viele Ukrainer wissen kaum, dass ukrainische Hilfspolizisten an den Verbrechen des Nationalsozialismus teilnahmen, oder sie leugnen diese historische Tatsache sogar. Auch im „Babyn Yar Memorial Center“ und dem Erinnerungsparks widersetzt man sich diesen Fakten vehement.

Die Opfer der Massenerschießungen sind namenslos

Die Ukraine wird nicht darum herumkommen, sich dem traurigen Kapitel auch der eigenen Geschichte zu stellen und die vielen Versäumnisse der sowjetischen Bildung in Hinblick auf die Erinnerung an die Shoah wiedergutzumachen. Das gilt ebenso für die Erinnerung an den Holocaust in Deutschland: Nach wie vor spielen die Massenerschießungen der Juden im Osten eine eher untergeordnete Rolle in der Erinnerung hierzulande. Über sie ist weit weniger bekannt als über die Vernichtungslager. Die vielen Millionen Erschießungsopfer sind namenlos und, wie der Dichter Jewtuschenko schrieb, ohne ein Denkmal. Die Bundesrepublik sollte die osteuropäischen Länder aktiv in der Aufarbeitung dieser Verbrechen unterstützen.

Für das jüdische Volk und insbesondere für Juden aus der ehemaligen Sowjetunion bleibt das Massaker eine offene Wunde. Der sowjetische Schriftsteller und Dissident Wiktor Nekrassow hatte in Bezug auf Babyn Jar eine sehr prägende Formulierung gewählt: ,,Ja, in Babyn Jar wurden nicht nur Juden erschossen, aber lediglich die Juden wurden erschossen, weil sie Juden waren.“ Zum 80. Jahrestag soll kein Opfer vergessen werden.

Die lange Stille über Babyn Jar wird vom traditionellen jüdischen Totengebet Kaddisch übertönt, weil wir es den Opfern, aber auch den zukünftigen Generationen schuldig sind.

Der Autor Michael Groys stammt aus einer jüdisch-ukrainischen Familie und lebt seit seiner Kindheit in Deutschland. Er arbeitet als Politikberater in Berlin.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.

Dieser Beitrag unterliegt der Creative Commons Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nicht kommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.