Nord Stream 2 spaltet Deutschland und die Ukraine

Der Besuch der deutschen Kanzlerin Merkel in der Ukraine zeigte bei aller gegenseitigen Wertschätzung vor allem die Differenzen in den Beziehungen. Der ukrainische Präsident Selenski hoffte vergeblich auf feste Zusicherungen.

Markus Ackeret, Moskau
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Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski an der Pressekonferenz in Kiews Marienpalast.

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski an der Pressekonferenz in Kiews Marienpalast.

AP

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hatte die Latte für den Besuch der deutschen Kanzlerin Angela Merkel am Sonntag in Kiew hoch gelegt. Es sei nicht die Zeit für Treffen um des Treffens willen. Er erwarte Konkretes, nicht zuletzt auch aus dem Gespräch Merkels mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am Freitag, sagte er in einem Interview mit ukrainischen und ausländischen Medien. Statt guter Ergebnisse sei es manchmal wichtiger, überhaupt ein konkretes Resultat zu haben.

Selenski bezog sich dabei in erster Linie auf die Erdgaspipeline Nord Stream 2, die der Ukraine grosse Sorgen bereitet. Er hoffte darauf, dass Merkel Putin zusätzliche Garantien abgerungen haben könnte, um den Erdgastransit von Russland durch die Ukraine auch nach der Inbetriebnahme der umstrittenen Leitung durch die Ostsee über das Jahr 2024 hinaus zu sichern.

Die Enttäuschungen überwiegen

Das Verhältnis der Ukraine zum Westen ist derzeit vor allem von Enttäuschungen geprägt. Davon ist auch Deutschland betroffen und persönlich die scheidende Kanzlerin. Diese hatte sich zwar wie kaum ein anderer europäischer Staats- oder Regierungschef nach dem Umsturz von 2014, der russischen Annexion der Krim und der militärisch-politischen Einmischung Moskaus im Donbass für ukrainische Anliegen eingesetzt und im sogenannten Normandie-Format mit ihren Kollegen aus Russland und Frankreich versucht, den Krieg in der Ostukraine zu beenden und den Konflikt zu lösen. Aber aus Sicht der Ukraine machte auch sie zu viele Zugeständnisse an Putin.

Dass sie Nord Stream 2 als angeblich rein wirtschaftliches Projekt unbeirrt unterstützte, obwohl es in Kiew als schwerwiegende Bedrohung für die Sicherheit gesehen wird, ist ein immer grösseres politisches Hindernis zwischen den beiden Staaten. Besonders schmerzhaft für die Ukraine war die Übereinkunft zwischen Deutschland und den USA über den Verzicht weiterer Sanktionen gegen Russland wegen Nord Stream 2 bei gleichzeitiger Verpflichtung zur Fortsetzung des Erdgastransits durch die Ukraine.

Bekannte Positionen wiederholt

Unfreundliche Töne unterblieben zwar an der Pressekonferenz am Sonntagmittag im prächtigen Marienpalast. Das «Konkrete», das der Gastgeber sich erhofft hatte, blieb aber aus. Eher schien es, als hätten sich die beiden einfach noch einmal über ihre bereits bekannten Positionen ausgetauscht. Das betraf die fehlenden Fortschritte bei der Umsetzung des Minsker Abkommens. Die Streitpunkte dabei sprach Merkel nicht an. Sie sagte erneut, sie wolle sich für ein neues Treffen im Normandie-Format einsetzen.

Hauptthema war aber diesmal Nord Stream 2. Merkel versicherte Selenski, Deutschland werde auch nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt den eingegangenen Verpflichtungen treu bleiben. Einerseits geht es um die Verlängerung des Erdgastransits durch die Ukraine über die bisherigen Verträge hinaus. Anderseits enthält die deutsch-amerikanische Vereinbarung die Zusage, in die Transformation der ukrainischen Energiewirtschaft zu investieren. Merkel erinnerte daran, dass die Absage an fossile Energieträger den Erdgastransit ohnehin früher oder später überflüssig machen werde und sich auch Kiew darauf vorzubereiten habe.

Risiko für ganz Europa

Selenski gab sich mit diesen Beschwichtigungen nicht zufrieden. Er insistierte mehrmals auf der ukrainischen Position und damit auf der Differenz zur Kanzlerin. Die Ukraine erachte Nord Stream 2 als gefährliche Waffe des Kremls. Das primäre Risiko trage die Ukraine, aber auch für Europa sei das bedrohlich. In Kiew befürchtet nicht nur die Regierung, dass Putin nach der Inbetriebnahme der Leitung freie Bahn dafür habe, mit militärischen Mitteln die Ukraine gefügig zu machen, ohne den Verkauf russischen Erdgases nach Westen zu gefährden. Der Erdgastransit ist für Kiew eine Art Rückversicherung, um nicht ganz vom Westen vergessen zu werden.

Putins Äusserungen am Freitag nach dem Treffen mit Merkel, wonach es von der Bereitschaft der Europäer, russisches Erdgas zu bestellen, und vom Wohlverhalten Kiews abhänge, ob der Transit weiterhin stattfinden könne, wurde vielerorts als Drohung empfunden. Putin liess nicht nur im Frühjahr Zehntausende von Soldaten unter dem Vorwand eines Manövers an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren. Er lässt auch keine Gelegenheit aus, die Souveränität des Nachbarn infrage zu stellen und auf die angebliche Gefährdung der Russischsprachigen im Land hinzuweisen. Dass der ukrainische Sicherheitsrat gerade eben eine beliebte russischsprachige Website sperren liess, ist ihm ein gefundenes Fressen.

Es ist wenig überraschend, dass der Abschiedsbesuch Merkels in Kiew nichts an den grundlegenden Meinungsunterschieden ändert. Umso wichtiger ist Selenski die sogenannte Krim-Plattform, an deren Lancierung an diesem Montag er gerne Merkel begrüsst hätte. Mit dem neuen Format will der Präsident kurz vor dem 30. Jahrestag der Unabhängigkeit des Landes die Bestrebungen auf diplomatischem Weg vorantreiben, die 2014 verlorene Halbinsel dereinst wieder in die Ukraine einzugliedern. Moskau sieht darin eine weitere Provokation.