Politik

Wir sind doch ein Volk!

Russlands Präsident Wladimir Putin betreibt Geschichtsklitterung, um die Ukraine als kleinen Teil seines großen Landes darzustellen.
Von Friedrich Schmidt, Reinhard Veser
Für die Unabhängigkeit: Demonstranten vor dem Parlament in Kiew am 4. September 1991 AP

Anfang Juli hat Wladimir Putin eine neue nationale Sicherheitsstrategie unterzeichnet. Zu den vielen Bedrohungen für Russland, die in dem Dokument aufgezählt werden, gehören auch „Versuche, die Weltgeschichte zu verzerren, indem die Rolle und der Platz Russlands darin revidiert werden“. Die Herrschaft über die Vergangenheit ist dem russischen Präsidenten seit Langem ein Anliegen. Mehrere Institute, Kommissionen und kremlnahe Organisationen haben die Aufgabe, das Zarenreich und die Sowjetunion in ein positives Licht zu rücken und gegen angebliche Geschichtslügen zu Lasten Russlands vorzugehen. In jüngster Zeit betätigt sich Putin auch selbst gerne als Historiker. Zum 75. Jahrestag des Kriegsendes veröffentlichte er voriges Jahr in der amerikanischen Zeitschrift The National Interest einen Artikel über die „wirklichen Lektionen“ aus dem Zweiten Weltkrieg. In dem von seiner Umgebung als wegweisend gepriesenen Beitrag rechtfertigte Putin den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und schob den Westmächten sowie Polen einen Großteil der Schuld am Ausbruch des Krieges zu.

Das neueste Werk Putins trägt die Überschrift „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“. Er hatte den Artikel Ende Juni im „Direkten Draht“ angekündigt, einer einmal im Jahr stattfindenden Sendung des Staatsfernsehens mit Fragen aus der Bevölkerung an den Präsidenten. Da hatte Putin gesagt, was er seit seiner Rede zur Annexion der Krim im März 2014 unzählige Male wiederholt hat: Russen und Ukrainer seien ein Volk. In dem am Montagabend auf der Website des Kremls veröffentlichten Text holt Putin nun weit in die Vergangenheit aus, um diesen Satz zu begründen. Denn seit der alten Rus im 9. und 10. Jahrhundert und der Annahme des orthodoxen Christentums bildeten Russen, Ukrainer und Belarussen eine kulturelle, sprachliche und geistige Einheit.

Aufschlussreiche Halbwahrheiten

Putins Artikel ist über weite Strecken eine Aneinanderreihung von Geschichtsklitterung und Halbwahrheiten, aber gerade deshalb sehr aufschlussreich. Die heutigen Gegensätze zwischen der Ukraine und Russland seien, so Putin, „die Folge unserer eigenen Fehler“, aber auch „das Ergebnis der zielgerichteten Arbeit jener Kräfte, die immer bestrebt waren, unsere Einheit zu unterminieren“. Nach russischen Fehlern sucht man im weiteren Text vergeblich. Dafür findet man viel über Machenschaften ausländischer Kräfte: des mittelalterlichen Großfürstentums Litauen, des litauisch-polnischen Doppelstaats im 16. und 17. Jahrhundert, Österreich-Ungarns, Deutschlands und schließlich des heutigen Westens.

Klare Rollenverteilung

Die Rollen sind stets klar verteilt: Russland schützt die orthodoxe und russischsprachige Bevölkerung der Ukraine auf deren eigenen Wunsch gegen Versuche, ihr ihre Religion und ihre Identität zu nehmen. Eine solche Konstellation gab es im 17. Jahrhundert tatsächlich, als die selbständigen Kosakengemeinschaften auf dem Gebiet der heutigen Ukraine den Zaren um Hilfe in ihrem Kampf gegen das – katholische – polnische Königreich gebeten haben. Daraus resultierte der Vertrag von Perejaslaw von 1654, der in Russland heute als „Wiedervereinigung“ der Ukraine mit dem Mutterland betrachtet wird, aus Sicht der Kosaken jedoch nur ein zeitlich begrenzter Beistandspakt sein sollte.

Als Argument für seine These, Russen und Ukrainer seien ein Volk, führt Putin die sprachliche Nähe an. Die Entwicklung der ukrainischen Sprache stellt er als „Entstehung von regionalen sprachlichen Besonderheiten“ dar – und vereinnahmt die im 19. Jahrhundert verfassten ersten Dichtungen auf Ukrainisch als russisches Kulturerbe. Besonders grotesk wirkt das beim ukrainischen Nationaldichter Taras Schewtschenko, der von den zaristischen Behörden verfolgt wurde, weil sie die Gefahr sahen, seine Gedichte könnten die Idee eines eigenständigen ukrainischen Staates verbreiten.

Dass Putin für die Ukraine gerade in dieser Passage die historische Bezeichnung „Kleinrussland“ verwendet, ist pikant. Denn dieser Name wurde im 19. Jahrhundert von den zaristischen Behörden bewusst eingesetzt, um deutlich zu machen, dass es eine ukrainische Kultur nicht gebe. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war von der Zensur sogar die Verwendung des Wortes „Ukrainer“ untersagt, wie der Historiker Andreas Kappeler schreibt.

Putin verschweigt diese Unterdrückung nicht. Doch er rechtfertigt das Verbot der ukrainischen Sprache nach dem polnischen Aufstand von 1863 politisch. Die polnische Nationalbewegung habe eben versucht, „die ,ukrainische Frage‘ für ihre Interessen auszunutzen“. Außerdem sprächen die „objektiven Fakten“ davon, „dass im Russischen Imperium ein aktiver Prozess der Entwicklung der kleinrussischen kulturellen Identität im Rahmen der großen russischen Nation stattfand“, so Putin. In Wirklichkeit heißt es in dem Dekret des russischen Innenministers zum Verbot ukrainischer Literatur von 1863 jedoch: „Eine eigene kleinrussische Sprache hat es nicht gegeben, gibt es nicht und kann es nicht geben.“

„Ein Produkt der sowjetischen Epoche“

Für die Idee, dass es ein vom russischen getrenntes ukrainisches Volk geben könne, die damals „in der polnischen Elite und einem Teil der kleinrussischen Intelligenzija aufkam“, so Putin, „gab es keine historische Grundlage und konnte es auch nicht geben“. Die ukrainische Nationalbewegung war laut Putin vor allem ein Instrument Österreich-Ungarns gegen Russland – und auf dieser Ideologie bauten heute jene im Westen auf, die aus der Ukraine ein „Anti-Russland“ machen wollten.

Die moderne Ukraine ist laut Putin „voll und ganz ein Produkt der sowjetischen Epoche“. Mit ihrer Nationalitätenpolitik, die in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts eine Stärkung der nichtrussischen Nationalitäten der Sowjetunion anstrebte, hätten die Kommunisten „Russland faktisch beraubt“. Tatsächlich waren die Zwanzigerjahre eine Blütezeit der ukrainischen Sprache, weil es erstmals Hochschulbildung auf Ukrainisch gab und sozialer Aufstieg für Ukrainer erstmals nicht bedeutete, dass sie die Sprache wechseln mussten. Was Putin verschweigt: Diese „Ukrainisierung“ nahm Anfang der Dreißigerjahre ein abruptes Ende, als in der Ukraine einige Jahre früher als in der übrigen Sowjetunion der stalinsche Terror einsetzte. Während in den Städten die ukrainischen Nationalkommunisten liquidiert wurden, führte in den ukrainischen Dörfern eine vom Regime herbeigeführte Hungersnot zum Tod von mindestens drei Millionen Menschen. Dafür hat der russische Präsident nur einen Satz übrig: In einem Absatz über ukrainische Geschichtsmythen klagt er, die Ukrainer gäben „die uns gemeinsame Tragödie der Kollektivierung, des Hungers Anfang der Dreißigerjahre als Genozid am ukrainischen Volk aus“. Tatsächlich verhungerten damals auch Russen – doch die Opferzahl in den ukrainischen Dörfern war besonders hoch, weil Stalin die Ukraine als Unruheherd ansah.

Rhetorik wird schärfer

An den gegenwärtigen Spannungen sei nicht das ukrainische Volk schuld, bekräftigt Putin mehrmals. Viele Ukrainer empfänden noch immer eine „große Liebe“ zu Russland. Er beschuldigt die ukrainische Elite, sie habe die Menschen in der Ukraine am Ende der Sowjetunion „vom historischen Vaterland losgerissen“. Dass im Dezember 1991 in einem Referendum 90 Prozent der Ukrainer für die Unabhängigkeit gestimmt haben, ignoriert er. In der heutigen Ukraine finde eine „zwangsweise Änderung der Identität statt“, schreibt Putin. Das komme „in seinen Folgen mit der Anwendung einer Massenvernichtungswaffe gegen uns gleich“, denn das russische Volk könne dadurch „um Millionen“ kleiner werden. Das ist nicht die einzige Passage, die wie eine Drohung gegen die Ukraine klingt: „Wir werden nie erlauben, dass unsere historischen Gebiete und die dort lebenden, uns nahen Menschen gegen Russland genutzt werden.“ Wer das versuche, „zerstört sein Land“.

Das fügt sich in das Bild, dass die Rhetorik gegenüber der Ukraine in Russland seit einiger Zeit wieder schärfer wird. Ohnehin ist das Nachbarland seit Jahren in Russland auf die Rolle des Prügelknaben gebucht. Putins Staatsfernsehen bestreitet einen Großteil seines Programms mit Hetze über die Ukraine. Vor den Wahlen zur Duma, dem russischen Unterhaus, im September könnte die Dauerkampagne verstärkt werden. Bezeichnend für den Tonfall ist die Äußerung des Duma-Abgeordneten Pjotr Tolstoj. Nach Putins „Direktem Draht“ sagte er im Staatsfernsehen, das Problem in der Ukraine „ist nur das Häuflein Schurken, die auf antikonstitutionelle Weise die Macht dort erobert haben. Die muss man an den Laternen aufhängen.“ Die Ukraine sei „zweifellos Teil des großen Russlands“, hob Tolstoj hervor.

Ukraine reagiert mit Ironie und Sarkasmus

Wie wenig Moskau noch auf die Souveränität der Ukraine gibt, wurde Anfang Juni deutlich. Da machte Putin eine Fortdauer des von Russland vertraglich zugesicherten Gastransits nach Inbetriebnahme der Pipeline Nord Stream 2 mit Deutschland davon abhängig, dass die Ukraine „guten Willen“ zeige, etwa, indem sie Einnahmen nicht für ihre Armee verwende. Im Frühjahr ließ Moskau Zehntausende Soldaten im Grenzgebiet und auf der Krim zu „Übungen“ aufmarschieren; beim Abzug ließ man nach eigenen Angaben Militärgerät nebst „zuverlässiger Bewachung“ zurück.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat auf die jüngsten Äußerungen Putins bisher mit Ironie und Sarkasmus reagiert. Nach Putins „Direktem Draht“ vor zwei Wochen sagte er: „Wir sind nicht ein Volk. Wären wir eines, würde man in Moskau mit Hrywnja bezahlen, und über dem Parlament würde die blau-gelbe Flagge wehen.“ Am Dienstag sagte er zu dem Artikel, er beneide Putin dafür, dass er als Führer eines großen Staats so viel Zeit habe, einen solchen Artikel zu schreiben. Wenn er die Zeit finde, den ganzen Artikel zu lesen, werde er darauf antworten. Einen positiven Aspekt konnte Selenskyj dem Beitrag aber abgewinnen: Dass der Kreml ihn auf seiner Website auch auf Ukrainisch veröffentlicht hat, „zeigt, dass wir alles richtig machen“.

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