Putins vergiftetes Angebot – Seite 1

Ralf Fücks ist Direktor des Zentrums Liberale Moderne in Berlin, einer Denkwerkstatt und internationalen Dialogplattform zur Erneuerung der liberalen Demokratie. Schwerpunkte sind die Ukraine und Russland. Das Zentrum wurde von Russland kürzlich als sogenannte unerwünschte ausländische Organisation eingestuft, was die Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen in Russland de facto unmöglich macht. Fücks antwortet hier auf den Gastbeitrag von Wladimir Putin vom 22. Juni 2021. Auch der polnische Politiker Radosław Sikorski hat bereits zu Putins Text Stellung genommen.

Wladimir Putins Exkurs zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion ist ein kleines Meisterwerk. Der Text spielt perfekt mit der vielschichtigen Gemütslage der Deutschen gegenüber Russland. Putin weiß nur zu gut, dass die Gefühle von Schuld und Scham über den Vernichtungskrieg von Wehrmacht und SS fast vollständig auf Russland gerichtet sind, obwohl sich die Gewaltexzesse des Ostfeldzugs ebenso auf dem Territorium Polens, der Ukraine und des heutigen Belarus abgespielt haben. Es war eine Vielzahl von Nationen, die unter Krieg und Besatzung gelitten und Hitlerdeutschland unter unendlichen Opfern niedergerungen hat. Die deutsche Empathie mit Opfern und Befreiern ist aber sehr ungleich verteilt – und der Kreml schürt diese Asymmetrie nach Kräften.

Der ruhmreiche Sieg im "Großen Vaterländischen Krieg" ist eine zentrale Legitimation des Putin-Regimes. Auf dieses Bild darf kein Schatten fallen. Der Hitler-Stalin-Pakt, die einvernehmliche Zerschlagung Polens und die imperiale Aufteilung Osteuropas, die dem 22. Juni 1941 vorausgingen, werden in Putins Text mit keiner Zeile erwähnt. Dass für die östliche Hälfte Europas die Befreiung von der Naziherrschaft durch die Rote Armee in eine neue Gewaltherrschaft mündete, ist Putin keiner Rede wert. Sein großrussisches Geschichtsbild lässt keinen Raum für die doppelte Gewalterfahrung, die die Völker Mittelosteuropas unter Hitler und Stalin durchlebt haben.

Fein auf Deutschland abgestimmt

Ein zweites Motiv, das Putin anspricht, ist die antiwestliche Unterströmung in Deutschland, die chronische Ambivalenz gegenüber Amerika und die tiefsitzenden Vorbehalte gegenüber der Nato. Folgt man Putin, ist die Osterweiterung der Nato die Ursünde, die das neue Europa zerstört hat. Das stellt die Dinge auf den Kopf. Die Nato war nie eine Bedrohung Russlands. Darauf ist sie weder politisch noch militärisch ausgerichtet. Ihre Erweiterung ging auch nicht von Washington aus. Vielmehr suchten die neuen Demokratien in Mittelosteuropa eine Rückversicherung gegen die Wiederkehr imperialer Ambitionen im Kreml. Die militärischen Interventionen Russlands gegen Georgien und die Ukraine haben diese Befürchtung bestätigt.

Die Grundmelodie des Putin-Texts ist fein auf Deutschland abgestimmt. Sein Plädoyer für ein "Europa von Lissabon bis Wladiwostok" zielt darauf ab, uns endlich von den USA abzukoppeln und die Westbindung gegen eine Allianz mit Moskau einzutauschen. Dafür gibt es in Deutschland seit jeher einen fruchtbaren Boden, von ganz links bis ganz rechts. Teile der deutschen Wirtschaft hängen noch immer an der Idee einer strategischen Allianz, in der Russland die Rohstoffe und Deutschland die Hochtechnologie liefert. Nord Stream 2 steht in dieser Tradition. Auch politisch gibt es in konservativen wie linken Milieus viel Sympathie für eine Berlin-Moskau-Achse als geopolitisches Gegengewicht zu Amerika und China.

Putin füttert diese Strömung sehr bewusst. Er setzt darauf, dass Europa ohne die transatlantische Rückbindung unter die politische und militärische Dominanz Russlands geraten wird. Deutschland ist in den Augen des Kremls der Swing-State, um die Nato zu Fall zu bringen. Das ist ihm alle Mühe wert. An Geld mangelt es nicht. Dafür sorgen die Profite aus dem Gas- und Ölexport.

Russland zerstört die Grundlagen für den Dialog

Ein drittes Leitmotiv, das in Putins Appell anklingt, ist der Dialog als Allheilmittel für eine schiedlich-friedliche Zusammenarbeit. Dass der berühmte Gesprächsfaden nicht abreißen darf, gehört zu den Allgemeinplätzen der Russland-Debatte. Dabei gibt es keinen Mangel an Gesprächen. Bundeskanzlerin Angela Merkel telefoniert regelmäßig mit Putin, die europäischen Außenminister treffen sich der Reihe nach mit ihrem russischen Gegenüber Sergej Lawrow. Russland ist Mitglied im Europarat und der OSZE, es gibt gemeinsame Wirtschaftsforen, Städtepartnerschaften und den Petersburger Dialog. Das alles hinderte den Kreml aber nicht daran, auf Konfliktkurs zu gehen. Die Liste der Regelbrüche ist lang – vom unerklärten Krieg gegen die Ukraine über Hackerattacken auf den deutschen Bundestag bis zu den Mordanschlägen auf Putin-Gegner in Europa.

Alle Dialogbereitschaft ändert nichts daran, dass wir uns mitten in einem neuen Systemkonflikt zwischen liberalen Demokratien und ihren autoritären Gegenspielern befinden. Wir sollten zumindest wissen, mit wem wir es in Moskau zu tun haben. Sonst geht es den europäischen Good-Will-Diplomaten wie EU-Außenkommissar Josep Borrell, der von Lawrow auf offener Bühne gedemütigt wurde.

Die russische Führung zerstört systematisch die Grundlagen für einen ernsthaften Dialog. Im eigenen Land werden die Daumenschrauben gegen die Zivilgesellschaft immer weiter angezogen. Mit einer ganzen Serie repressiver Gesetze wurde die Meinungsfreiheit eingeschränkt. Mehr als 160 gesellschaftliche Organisationen sind inzwischen als sogenannte ausländische Agenten gebrandmarkt. Jede politische Opposition wird im Ansatz verhindert. Fernsehen, Justiz und Duma sind längst gleichgeschaltet, kritische Geister werden in die Emigration getrieben.

Parallel wächst die Liste der sogenannten unerwünschten ausländischen Organisationen, denen jede Aktivität in Russland verboten ist. Darunter finden sich Demokratiestiftungen wie das European Endowment for Democracy und die Open Society Foundations, wissenschaftliche Institute und die europäische Plattform für demokratische Wahlen. Jüngst landeten auch der Deutsch-Russische Austausch und das Zentrum Liberale Moderne auf dieser Verbotsliste. Damit wird unsere langjährige Zusammenarbeit mit russischen Freunden und Partnern abgeschnitten. Wer künftig mit uns kooperiert, riskiert, im Gefängnis zu landen. Repression nach innen und Abschottung nach außen gehen Hand in Hand.

Putin ist nicht Russland

Selbstverständlich müssen die diplomatischen Kanäle nach Moskau offen gehalten werden. Gleichzeitig sollten wir alles tun, die demokratischen Kräfte im Land zu unterstützen. 

Wladimir Putin ist nicht Russland. Es gibt ein wachsendes demokratisches Selbstbewusstsein in den Regionen und in der jungen Generation. Das sind unsere strategischen Partner. Wir dürfen uns von Moskau nicht die Bedingungen des Dialogs diktieren lassen. Russische Staatsmedien und Internetbataillone beeinflussen im großen Stil die öffentliche Meinung im Westen, der Kreml kooperiert mit rechts- und linkspopulistischen Parteien in ganz Europa. Es ist nicht akzeptabel, dass umgekehrt die Zusammenarbeit mit russischen Partnern als "Einmischung in die inneren Angelegenheiten" unterbunden wird.

Was also sollte unsere Antwort auf Putin sein? Russland ist im gemeinsamen europäischen Haus willkommen. Aber eine wirtschaftliche und politische Partnerschaft muss auf gemeinsamen Werten und Regeln aufbauen. Dahinter gibt es kein Zurück. Ein Aufruf zur europäischen Zusammenarbeit, in dem Demokratie, Menschenrechte, gleiche Sicherheit und Souveränität aller Staaten mit keiner Silbe erwähnt werden, ist ein vergiftetes Angebot.