Putins Mythen – Seite 1

Martin Schulze Wessel ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Hier antwortet Schulze Wessel auf den Gastbeitrag von Wladimir Putin vom 22. Juni 2021 . Ralf Fücks, Direktor des Zentrums Liberale Moderne, und der  polnische Politiker Radosław Sikorski haben ebenfalls bereits zu Putins Text Stellung genommen.

Wladimir Putins Gastbeitrag zum Jahrestag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion erinnert an den Zweiten Weltkrieg und bietet einen Neuanfang in den Beziehungen zwischen Russland und Europa. Er hat in den deutschen Medien zu einer breiten Diskussion geführt, während die russische Version, veröffentlicht auf der Website des Präsidenten, in der russischen Öffentlichkeit praktisch unbemerkt geblieben ist.

Das Bild vom Krieg, das Putin zeichnet, ist bemerkenswert blass; er spricht von "Dutzenden Millionen Menschen", die in der Sowjetunion zu Tode kamen, doch er gibt weder den Opfern noch den Tätern ein Gesicht. Keine Rede ist etwa vom ukrainischen Babyn Jar, wo Deutsche innerhalb von 36 Stunden mehr als 33.000 ukrainische Jüdinnen und Juden ermordeten. Ungenannt bleibt die Leningrader Blockade, mit der die Wehrmacht die Stadt drei Jahre aushungerte, und sogar die mehr als sieben Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die in deutscher Kriegsgefangenschaft umkamen, finden keine Erwähnung.

Die Opfer sind in Putins Erinnerung nicht Juden, Belarussen, Ukrainerinnen, Russen, sondern ohne alle Unterschiede Bürger der Sowjetunion. Auch die Täter gehören in seinem Geschichtsbild keiner Nation an, Putin spricht nicht von deutschen Tätern, etwa der Wehrmacht, sondern in einer verschleiernden Redeweise, die in Deutschland ungebräuchlich geworden ist, von "den Nationalsozialisten", die die Sowjetunion überfielen. Der sowjetische Triumph im Weltkrieg gerät klassizistisch-monumental: "… der Sowjetsoldat [setzte] seinen Fuß nicht auf deutschen Boden, um sich an den Deutschen zu rächen, sondern um seine edle und große Befreiungsmission zu erfüllen".

Putins Geschichtsdeutung ist nicht neu, sie entspricht genau dem Bild, das in der 1949 errichteten Kolossalstatue eines Rotarmisten, der ein gerettetes deutsches Kind auf den Armen trägt, im sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow seinen Ausdruck gefunden hat. Aber sie steht in einem neuen politischen Kontext: Das "Wir", mit dem Putin für die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg spricht, gleitet unmerklich in das Wir der Gegenwart über, mit dem nur die Russen, nicht die Ukrainer, Belarussinnen und andere gemeint sind. Sowjetische Opfer und sowjetisches Heldentum beansprucht Putin für Russland, während Belarus und die Ukraine, die auch Anteil am Sieg hatten und verhältnismäßig sehr viel mehr Opfer zu beklagen haben, ungenannt bleiben. Diese falsche Identifizierung von sowjetisch und russisch hat auch in Deutschland eine gewisse Tradition. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hielt zum 80. Jahrestag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion eine sehr gute Rede, in der die verschiedenen Opfergruppen des Weltkriegs angemessen zur Sprache kamen. Aber er hielt sie im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst, einer einst sowjetischen Einrichtung, die seit 1994 binational von Deutschland und Russland getragen wird. Mit der Ukraine kam es vor Steinmeiers Rede zum Eklat.

Putin redet von Russland und Europa und appelliert an die europäische Politik. Doch ist sein Text von einer bilateralen deutsch-russischen Logik durchzogen. Er wendet sich an die deutsche Öffentlichkeit mit ihrer ausgeprägten russlandfreundlichen Orientierung auf der Linken wie der Rechten. Dazu passt Putins Geschichtsbild vom Zweiten Weltkrieg, das nicht von deutscher Schuld spricht. Auch die gegenwartsbezogenen Textpassagen sind für das deutsche Publikum geschrieben und im Detail an die in Deutschland vorherrschenden Rezeptionsmuster angepasst. Den Basso continuo der Rede bilden die Motive von Kriegsprävention und Versöhnung, von Wohlstandssicherung durch Warenaustausch und von technischer Moderne. Themen, mit denen man in Deutschland Wahlen gewinnt.

Putins Geschichtserzählung stellt die Verhältnisse auf den Kopf

Putin erinnert an die deutsche Wiedervereinigung und würdigt vor allem die Pionierrolle der deutschen Unternehmer für die deutsch-russischen Beziehungen. Dafür hat er einen aktuellen Anlass: Ungeachtet der deutlich abgekühlten Beziehung zwischen dem Westen und Russland nach dem Attentat auf Alexej Nawalny stellen sich die deutschen Unternehmen, wie eine aktuelle Geschäftsklimaumfrage der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer (AHK) belegt, auf eine schwunghafte Entwicklung ihres Russlandgeschäfts ein. Für die bilaterale Entwicklung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen – gegen die strategischen Interessen der Ukraine, gegen die Warnungen der USA – ist Nord Stream 2 zum Symbol geworden. Für Putin ist es ein "großartiges Projekt" – großartig wegen seines exklusiv deutsch-russischen Charakters und seiner spaltenden Wirkung auf die Europäische Union und den Westen. Die deutsche Öffentlichkeit auf dem Pfad des deutsch-russischen Bilateralismus zu bestärken, ist die wichtigste politische Funktion, die mit Putins Kriegsgedenken verbunden ist.

In seinem Gastbeitrag beansprucht Putin die Deutungshoheit über die jüngste Geschichte. Er tritt gewissermaßen als Historiker auf, wenn er "Grundursachen" für den Konflikt zwischen Russland und dem Westen ausmacht, die er "im Vorrücken der Nato gen Osten" sieht. Dass die Erweiterung der Nato und der Europäischen Union dem politischen Willen der ostmitteleuropäischen Staaten entsprach, ignoriert Putin. Souveränen Staaten kann man die Wahl ihrer Bündnispartner nicht verwehren, wenn man die Prinzipien von Demokratie und nationaler Souveränität respektiert. Darin liegt das Grundproblem der russischen Sicherheitspolitik, das sie zur Mythenproduktion geradezu zwingt: Die Veränderung der politischen Landkarte darf nicht dem Willen freier Völker entsprechen, sie muss eine Folge der Machinationen der westlichen Politik sein.

Am ukrainischen Fall zeigt sich das besonders eindrücklich. Es waren die Vereinigten Staaten und Großbritannien, die es 1994 ermöglichten, dass die Ukraine wie auch Belarus und Kasachstan auf ihre Atomwaffen zugunsten Russlands verzichteten. In Budapest wurde ein Memorandum unterzeichnet, in dem der Ukraine im Gegenzug Souveränität und territoriale Integrität zugesichert wurde, verbürgt auch durch Russland. Erst als die Ukraine durch westliche Vermittlung der Kernwaffenabgabe zugestimmt hatte und damit die russischen Sicherheitsinteressen befriedigt worden waren, leitete der Besuch des ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma in den USA im November 1994 eine allmähliche Annäherung zwischen der Ukraine, den USA und auch der Europäischen Union ein. 

Putins Geschichtserzählung stellt die Verhältnisse auf den Kopf: Ihm zufolge wurde die Ukraine vor eine "künstliche Wahl gestellt – entweder mit dem kollektiven Westen oder mit Russland zusammenzugehen". Tatsächlich war die Entscheidung, ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union abzuschließen, eine souveräne Entscheidung der Ukraine, und als Kiew im November 2013 eine entsprechende Entscheidung für das Abkommen mit der EU revidierte, war der Protest dagegen ein Ausdruck des Volkswillens. Der Maidan, der zum Sturz der Regierung von Wiktor Janukowytsch und einem politischen Neuanfang in der Ukraine führte, gehört in die Reihe der großen europäischen Revolutionen. Sie wurde mit großen Entbehrungen und vielen Toten erkauft. Putin will hierin nichts anderes erkennen als einen von den USA organisierten "Staatsstreich", den die EU-Staaten "willenlos" unterstützt hätten. Dass er die russische Annexion der Krim als "Austritt" der Region aus der Ukraine bezeichnet, rundet die Geschichtslegende ab.

Auf das deutsche Zielpublikum, so ist zu befürchten, werden Putins Mythen nicht ohne Wirkung bleiben. Das Problem ist die Unkenntnis über die Geschichte des östlichen Europa in der deutschen Öffentlichkeit, ja selbst in den politischen Eliten Deutschlands. Über die Schrecken des deutschen Angriffskriegs im östlichen Europa entsteht allmählich ein Bewusstsein, dem es an vertieftem Wissen mangelt. Über größere Zusammenhänge, selbst über die jüngste Zeitgeschichte des östlichen Europa, bestehen allenfalls rudimentäre Kenntnisse. Unter diesen Bedingungen gedeihen Geschichtsmythen und gezielte Desinformation findet ihre Abnehmer.