Ukrainische Atomkraft in der Sackgasse

Hintergrund

Im September 2020 kündigte der ukrainische Präsident Volodymyr Selenskyj eine Initiative zum Bau von zwei neuen Reaktorblöcken am bestehenden AKW-Standort Khmelnitskyj an. Einen Überblick zur Lage der ukrainischen Atomwirtschaft 35 Jahre nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl präsentiert Oleksandra Zaika.

Baustellenruine des dritten Reaktorblocks am Atomkraftwerk Khmelnitskyj, Ukraine
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Baustellenruine des dritten Reaktorblocks am Atomkraftwerk Khmelnitskyj, Ukraine

In der Ukraine sind derzeit an vier AKW-Standorten 15 Reaktorblöcke mit einer installierten Gesamtleistung von 13,8 Gigawatt in Betrieb. Dabei ist der Standort Saporischja mit sechs Reaktoren der größte in ganz Europa. Die Atomkraft stellte in den letzten Jahren 50-55% der Stromerzeugung im Land zur Verfügung, obwohl jedes Jahr mehrere Reaktorblöcke für einige Monate für Wartungszwecke außer Betrieb sind.

Der Atomstrom ist in der Ukraine im Vergleich mit anderen Erzeugungsquellen am billigsten. Sein Preis spiegelt jedoch nicht die realen Kosten, er wird aus politischen Motiven künstlich geringgehalten. Der staatliche Atombetreiber Energoatom wurde z.B. im April 2020 vom gleichfalls staatlichen zentralen Stromaufkäufer mit 0,57 Griwna pro Kilowattstunde vergütet – das entspricht weniger als 2 Eurocents.

Atomkraft ist dennoch nicht billig, denn der Tarif beinhaltet nicht alle Kosten und negativen Externalitäten, die mit der Stromproduktion der AKW verbunden sind. Insbesondere sind hier die Kosten für die Behandlung abgebrannter Brennstäbe und die Atommüllentsorgung zu nennen. Zudem sind die Rückstellungen für den späteren Rückbau der Anlagen viel zu niedrig angesetzt und verlieren inflationsbedingt an Wert.

Sowjetisches Erbe und russische Verbindungen

Alle ukrainischen Reaktorblöcke gehen auf sowjetisches Kraftwerksdesign zurück. 13 Einheiten gehören zum VVER-1000-Typ, zwei weitere gehören zum Typ VVER-440, der heute schon nicht mehr vollständig den modernen internationalen Sicherheitsstandards entspricht.

12 der 15 Reaktoren haben ihre ursprünglich konzipierte Lebensdauer von 30 Jahren bereits überschritten. Ihre Laufzeiten wurden um 10 Jahre (VVER-1000 Reaktoren) bzw. um 20 Jahre (VVER-440-Reaktoren) verlängert. Die Betriebsrisiken steigen, da die vorgenommenen Modernisierungsmaßnahmen nicht den Austausch wichtiger Kraftwerkskomponenten wie etwa des Reaktorbehälters umfassen.

Die Laufzeitverlängerung führt zudem zu zusätzlichen Mengen an radioaktiven Abfällen, für deren sichere Verwahrung es keine Mechanismen gibt. Die abgebrannten Brennstäbe von drei ukrainischen AKW werden noch immer zur Aufarbeitung in die Russische Föderation übersendet, was die Ukraine 200 Millionen US-Dollar pro Jahr kostet. Die Ukraine besitzt nur am Standort Saporischja eine Anlage zur Lagerung abgebrannter Brennstäbe. Die Eröffnung einer neuen zentralen Anlage in der Tschernobyl-Zone verzögert sich beständig.

Neue atomare Brennstäbe werden zu 100% importiert. Davon werden ca. 60% von der russischen Firma TVEL produziert, der Rest vom amerikanischen Westinghouse-Konzern. Momentan wird der Westinghouse-Brennstoff nur für die VVER-1000-Reaktoren verwendet, ein Memorandum zwischen der Firma und der ukrainischen „Energoatom“ sieht nun auch die Entwicklung von Brennstäben für die VVER-440-Reaktoren vor.

Endlose Modernisierungen

Nach dem Fukushima-Desaster 2011 wurde die Frage der Sicherheit der Atomkraftwerke weltweit neu bewertet. Die Ukraine nahm mit ihren Reaktoren an den europaweit durchgeführten Stress-Tests teil. Ziel war die Prüfung, ob die zum Zeitpunkt der ursprünglichen Betriebsgenehmigung angelegten Sicherheitsstandards auch für den Fall unerwarteter Extremereignisse ausreichen würden. Die Tests simulierten die Fähigkeit der Anlagen, auch Erdbeben, Überflutungen, terroristischen Angriffen und Flugzeugabstürzen zu widerstehen. Auf Basis der Ergebnisse der vorgenommenen Bewertungen wurden Empfehlungen für ergänzende Sicherheitsmaßnahmen ausgesprochen. Die Umsetzung dieser Empfehlungen liegt in der Verantwortung der Staaten und sollte gemeinsam vom Betreiber und der Aufsichtsbehörde realisiert werden. Zudem verfolgt auch die European Nuclear Safety Regulators Group (ENSREG) zusammen mit der Europäischen Kommission die Umsetzung.

In der Ukraine legte die Regierung zu diesem Zweck das Complex Consolidated Safety Upgrade Program (CCSUP) auf, mit dem ursprünglich schon bis 2017 alle Maßnahmen umgesetzt werden sollten. Eine Finanzierung für das Programm in Höhe von 600 Millionen Euro wurde dafür von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) und von Euratom zur Verfügung gestellt. Nach einer Reihe von Verschiebungen ist aktuell das Jahr 2023 als Deadline vorgesehen.

Das heißt nichts anderes, als dass einige der Maßnahmen noch immer nicht umgesetzt und die Reaktoren nicht so sicher wie möglich sind. Ein Problem besteht z.B. mit den Notfall-Dieselgeneratoren am Standort Saporischja, die eine moderne elektronische Steuerung erhalten sollten. Laut dem ursprünglichen, mit der Regulierungsbehörde abgestimmten Plan hätten die Arbeiten schon Ende 2017 abgeschlossen sein müssen. Nach dem CCSUP Umsetzungsbericht war dies aber auch bis Ende Juni 2020 für keinen der sechs dortigen Reaktorblöcke erfolgt.

Im letzten Jahr, 2020, richtete sich die weltweite Aufmerksamkeit erneut auf die Sperrzone um den Katastrophenreaktor von Tschernobyl. Den gesamten Frühling andauernde Waldbrände waren ein neuer Grund für Besorgnis. Nicht nur Ukrainer*innen, sondern Menschen auf der ganzen Welt erinnerten sich an die Tragödie und die Konsequenzen der Katastrophe Ende April 1986 und befürchteten nun ein neues Desaster. 2020 begann auch der Probebetrieb der neuen Schutzhülle über dem Katastrophenreaktor. Viele Fragen über den Umgang mit dieser Altlast bleiben dennoch einstweilen offen.

Neue Reaktorblöcke?

Der AKW-Komplex von Khmelnitskyj liegt in der Nähe der Stadt Netishyn, etwa 250 km von der polnischen Grenze entfernt. Dort stehen zwei VVER-1000-Reaktoren, von denen der eine schon 1987, der andere erst 2004 ans Netz gegangen sind. Der Bau zweier weiterer Reaktoren am Standort begann bereits 1985, wurde aber nach der Tschernobyl-Katastrophe und dem folgenden Zerfall der Sowjetunion nicht vollendet. Seit 2005 gab es Versuche von Energoatom, das Projekt wiederzubeleben, zu konkreten Bauarbeiten kam es jedoch nie.

Laut Energoatom sind am dritten Reaktorblock praktisch 75% der Bauarbeiten abgeschlossen, am vierten Reaktor sind es bis zu 28%. Die vorgesehene Leistung der Reaktoren beträgt 2094 Megawatt, bei einer vorgesehenen Laufzeit von 50 Jahren.

2008 gewann die russische Firma Aomstroyexport die Ausschreibung für den Bau und das Projekt schien belebt. Russland sollte über einen Kredit die Finanzierung sichern. Bauarbeiten haben jedoch nie begonnen und der Kredit wurde nicht aufgenommen. 2015 erklärte das ukrainische Parlament den Vertrag für nichtig – nach der russischen Aggression gegen die Ukraine war eine weitere Zusammenarbeit ohnehin ausgeschlossen. Energoatom passte in den Folgejahren die Pläne jedoch an und der sowjetische Typenreaktor sollte nun von einem „europäischen“ Versorger vollendet werden, nämlich der tschechischen Firma Skoda JS, die sich allerdings mehrheitlich im Eigentum der russischen Gazprombank befindet. Von einem Abschied von russischen Partnern konnte somit nicht wirklich die Rede sein. Auf eine Ausschreibung war „nach Verhandlungen mit möglichen Dienstleistern“ gleich ganz verzichtet worden.

Zur Finanzierung des Baus plante Energoatom die sogenannte „Energy Bridge“, eine Verbindung des zweiten Reaktors von Khmelnitskyj mit dem EU-Netz, über die Strom nach Polen verkauft werden sollte. Polen zeigte daran jedoch kein Interesse und Energoatom ist auf der Suche nach einem anderen Finanzierungsmodell. Angesichts der ständig steigenden erwarteten Kosten des Vorhabens (von 15 Milliarden Griwna 2008 auf mittlerweile 73 Milliarden Griwna 2020) scheint dies nahezu unmöglich.

Die Umsetzung des Projekts führt aber auch noch zu weiteren Risiken. Erstens würde das Vorhaben die ukrainische Abhängigkeit von Russland im Energiesektor verstärken. Schon lange ist die Ukraine auf russische Lieferungen etwa beim Nuklearbrennstoff angewiesen. Die Energiestrategie 2035 der Ukraine sieht genau eine Reduzierung der Abhängigkeit von Russland und eine stärkere Diversifizierung sowie eine Steigerung der Energieeffizienz vor. Skoda JS ist seit 2004 Teil der OMZ, einem privaten russischen Schwermaschinenkonzern. Die Gazprombank hält 98,6% der Firmenanteile – daher stehen diese Firmen auf der ukrainischen Sanktionsliste und die Zusammenarbeit ist ausgeschlossen.

Zweitens gibt es keine Bestätigung der Eignung der bestehenden Bauten-Strukturen am dritten und vierten Reaktor. Die Fundamente und Hochbauten wurden Mitte der 1980er Jahre errichtet und waren über 30 Jahre schutzlos der Witterung ausgesetzt, teilweise überflutet und korrodiert.  Auch die angepasste Machbarkeitsstudie geht von der Möglichkeit des Weiterbaus auf den bestehenden Strukturen aus, obwohl hier in den letzten 10 Jahren keine substanziellen Prüfungen vorgenommen wurden.

Die technische Machbarkeit der Integration der vorhandenen Gebäudestrukturen in ein Neubauvorhaben bei Einhaltung heutiger Sicherheitsanforderungen ist höchst fraglich.

 

Modifizierte Version eines im Oktober 2020 auf der Website unseres Büros in Kiev in englischer Sprache erschienenen Artikels. Übersetzung aus dem Englischen von Robert Sperfeld.