Wir müssen über Bandera reden – die ideologische Aufladung einer historischen Figur hat fatale Konsequenzen für die politische Kultur der Ukraine

Stepan Bandera ist der wohl bekannteste und umstrittenste Name der ukrainischen Geschichte. Er wird sehr emotional wahrgenommen, oft ohne Kenntnis seiner Biografie oder seiner Arbeit in der Organisation Ukrainischer Nationalisten. Statt Mythologie täte Historie not.

Andrii Portnov 8 Kommentare
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Ukrainische Nationalisten feiern im Januar 2021 auf dem Kiewer Maidan den 112. Geburtstag des von ihnen verehrten «Freiheitshelden» Stepan Bandera.

Ukrainische Nationalisten feiern im Januar 2021 auf dem Kiewer Maidan den 112. Geburtstag des von ihnen verehrten «Freiheitshelden» Stepan Bandera.

Sergey Dolzhenko / EPA

Nach dem Ersten Weltkrieg war in Europa der Glaube weit verbreitet, dass ethnische Homogenität die wichtigste Voraussetzung für die stabile Entwicklung eines Staates sei. Doch trotz dem von Wilson propagierten «Selbstbestimmungsrecht der Völker» erlangte nicht jede ethnische Gruppe ihre eigene Staatlichkeit. Die ukrainischen Staatsgebilde, die nach dem Zusammenbruch der russischen und der österreichisch-ungarischen Monarchie ausgerufen worden waren, verschwanden in den militärischen Wirren der Jahre 1918 bis 1920 bald wieder. Ostgalizien und Wolhynien wurden Teil des neu entstandenen polnischen Staates. Die Zentral- und die Ostukraine wurden zur ukrainischen Sowjetrepublik zusammengefasst.

Die Ukrainer erlitten in Polen ­– anders als in der Sowjetunion – weder Hunger noch politische Massenrepressionen. Dennoch waren die fünf Millionen Ukrainer dort ständig mit verschiedenen Formen der Diskriminierung konfrontiert. Die Schulbildung in ukrainischer Sprache etwa war eingeschränkt, die polnischen Behörden weigerten sich, die versprochene ukrainische Universität in Lwiw zu eröffnen.

Die Ukrainer bildeten in östlichen Gebieten des neuen polnischen Staats die Bevölkerungsmehrheit (fast 70 Prozent in Wolhynien und über 50 Prozent in Ostgalizien). Die diskriminierende Haltung der polnischen Behörden drängte die politisch aktiven Ukrainer entweder in die Sowjetophilie oder in einen radikalen Nationalismus, der mit terroristischen Kampfmethoden eine «nationale Revolution gegen die polnische Herrschaft» forderte.

Kein Ideologe, ein Terrorist

Die polnische Politik war jedoch nicht allein für die Radikalisierung der ukrainischen politischen Szene verantwortlich. Der radikale Nationalismus erreichte auch nicht die gesamte ukrainische Bevölkerung. Allerdings strebte die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die im Winter 1929 auf einem Kongress in Wien als illegale Struktur gegründet wurde, genau eine solche Dominanz an. An ihrer Spitze stand Oberst Jewhen Konowalez (1891–1938). Unter den jungen Aktivisten der OUN ragte Stepan Bandera (geboren am 1. Januar 1909 in die Familie eines griechisch-katholischen Priesters im Dorf Stari Uhriniw) heraus. Bandera war kein Ideologe der OUN, sondern Terrorist.

Dmitro Donzow (1883–1973) lieferte mit seinem Pamphlet «Nationalismus», das 1926 veröffentlicht wurde, das ideologische Manifest der OUN, obwohl er selbst nie Mitglied war. Er rief zum gnadenlosen Kampf für den ukrainischen Staat auf, verherrlichte die Gewalt und idealisierte ab den dreissiger Jahren unmissverständlich die totalitären Praktiken des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus, popularisierte die nationalsozialistische Rassentheorie und machte antisemitische Äusserungen. Donzows Texte waren in erster Linie gegen Russland gerichtet, er vermied aber sorgfältig polnisch-ukrainische Themen, um seine eigene Position als Publizist in Lwiw nicht zu gefährden.

Die Vorbereitung und die Provokation eines Aufstandes gegen die polnische Regierung waren das Hauptziel der OUN-Politik. Die meisten Opfer der Terrorakte der OUN waren gemässigte Ukrainer, die für eine friedliche Lösung der politischen Widersprüche eintraten und nach der Logik der OUN die Sache der «nationalen Revolution» erschwerten, weil sie die Ukrainer in Polen mit der Regierung versöhnen wollten.

Am 25. Juli 1934 ermordeten die OUN-Mitglieder den Direktor des Lwiwer Akademischen Gymnasiums, Iwan Babi. Der ehemalige Offizier der Ukrainisch-Galizischen Armee und Befürworter eines polnisch-ukrainischen Ausgleichs wurde von den jungen Radikalen der aktiven Zusammenarbeit mit der polnischen Polizei beschuldigt. Stepan Bandera steckte hinter der Planung zu Babis Ermordung.

Er stand auch hinter der Organisation von zwei anderen Morden an politisch hochkarätigen Personen, die von der OUN ausgeführt wurden. Im Oktober 1933 wurde der Sekretär des sowjetischen Konsulats in Lwiw ermordet («als Vergeltung für den Holodomor in der Sowjetukraine»). Im Juni 1934 tötete die OUN den polnischen Innenminister Bronislaw Peracki. Dem unmittelbaren Vollstrecker des Mordes gelang die Flucht ins Ausland, aber Bandera und elf weitere OUN-Mitglieder wurden von den polnischen Behörden verhaftet. Im November 1935 begann in Warschau ein Prozess, bei dem Bandera und zwei seiner engsten Mitarbeiter zur Todesstrafe verurteilt wurden, die allerdings in lebenslange Haft umgewandelt wurde.

Während Bandera im Gefängnis sass, tötete ein sowjetischer Agent im Mai 1938 den OUN-Führer Konowalez in Rotterdam. Eine Bombe, die in einer Pralinenschachtel versteckt war, explodierte in den Händen des Obersts.

Ein Staat als «vollendete Tatsache»

Nach dem Untergang des polnischen Staates durch die deutsch-sowjetische Aggression im September 1939 kam Bandera frei. Bald darauf, im Jahr 1940, spaltete sich die OUN in zwei Fraktionen, die nach den Namen ihrer Führer benannt wurden: «Melnikivci» (nach Andri Melnik [1890–1964], dem Nachfolger von Konowalez) und «Banderivci». Der Bandera-Flügel der OUN hatte den Ruf, radikaler zu sein, und genoss die Unterstützung vor allem der jüngeren Mitglieder.

Die grösste Herausforderung für beide Fraktionen der OUN, die auf eine Zusammenarbeit mit Nazideutschland ausgerichtet waren, war die militärische Aggression des «Dritten Reiches» gegen die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Eine Woche später, am 30. Juni 1941, als deutsche Truppen Lwiw besetzten, beschloss Banderas OUN, dort einen ukrainischen Staat auszurufen und damit Berlin vor «vollendete Tatsachen zu stellen». Banderas Emissär Jaroslaw Stezko (1912–1986) kam nach Lwiw und verlas dort im Namen der OUN-B die «Proklamation des ukrainischen Staates». Dieses Ereignis kam für die deutsche Besatzungsherrschaft überraschend und war in keiner Weise Teil der nationalsozialistischen Pläne für den Osten Europas. Sowohl Stezko als auch Bandera wurden verhaftet und in einer speziellen Baracke im KZ Sachsenhausen interniert (wo sie bis September 1944 blieben).

Stepan Bandera in Kosaken-Uniform.

Stepan Bandera in Kosaken-Uniform.

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So nahm Bandera nicht persönlich an den Untergrundaktivitäten der 1942 gegründeten Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) und ihren Massenmorden an polnischen Zivilisten in Wolhynien teil. Während des Krieges hatte sich Bandera als Führer der politischen Organisation nie auf dem Territorium der Ukraine aufgehalten. Dennoch entbindet ihn dieser Umstand nicht von der Verantwortung für die von der UPA begangenen Verbrechen an polnischen und jüdischen Bewohnern von Wolhynien.

Die Geschichte des ukrainischen nationalistischen Untergrunds endet nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Vom Ausmass des antisowjetischen Kampfes der UPA in der Westukraine zeugen die nackten Zahlen, die im Mai 1953 an der Sitzung des Präsidiums des Zentralkomitees der KPdSU verlesen wurden: «In den Jahren 1944 bis 1952 waren in den westlichen Gebieten der Ukraine bis zu 500 000 Menschen verschiedenen Arten von Repressionen ausgesetzt, unter ihnen 134 000 Verhaftete, mehr als 153 000 Tote, mehr als 203 000 Menschen, die lebenslänglich aus der Sowjetukraine deportiert wurden.»

Gefängnis, Konzentrationslager, Exil

Bandera beteiligte sich nicht persönlich am antisowjetischen Nachkriegskampf der UPA. Einer seiner Gegner in der OUN, Lew Rebet, kritisierte in den späten vierziger Jahren die Gleichsetzung der OUN mit Bandera: «1934 verhaftet, kehrte er nie in die Ukraine zurück und hatte mit Ausnahme einer kurzen Zeitspanne in den Jahren 1940 und 1941 keinen direkten Bezug zur Organisation, er war im Gefängnis, dann im Konzentrationslager, dann im Exil. Aus einer Reihe von Gründen ist es jedoch sein Name (vor allem nach der Spaltung der OUN im Jahre 1940 . . .), der sich als derjenige herausstellte, der am engsten mit der Geschichte der Organisation verbunden ist, viel enger, als er es durch den tatsächlichen Beitrag seiner Arbeit verdient hätte.»

Rebet sollte das erste Opfer der sowjetischen Geheimdienste bei ihrer Jagd auf ukrainische Nationalisten im Exil werden. Am 12. Oktober 1957 spritzte der KGB-Agent Bogdan Staschinski in München Rebet ein speziell entwickeltes Gift aus einer Pistole ins Gesicht. Nach wenigen Minuten war das Gift vollständig aus dem Körper des Opfers entwichen. Rebets Tod wurde als Herzinfarkt eingestuft und liess nicht einmal den Verdacht auf einen geplanten Mord aufkommen.

Am 23. Mai 1958 fand auf dem Friedhof in Rotterdam eine besondere Zeremonie anlässlich des zwanzigsten Jahrestages der Ermordung von Konowalez, dem Gründer der OUN, statt. Daran nahmen nicht nur Bandera, Melnik und andere Persönlichkeiten der nationalistischen Bewegung teil, sondern auch Staschinski, dessen Aufgabe es war, Bandera unter den Teilnehmern der Zeremonie aufzuspüren und zu identifizieren.

Am 15. Oktober 1959 spritzte Staschinski in München auch Bandera Gift aus einer neuen, verbesserten Pistole ins Gesicht. Diesmal konnten Ärzte das Gift im Blut des Ermordeten nachweisen. Zunächst wurde jedoch die Hauptversion von Banderas Tod als Selbstmord angesehen (zur Erklärung verwiesen einige auf eine Liebesbeziehung, andere auf politische Fehlschläge).

Die Morde an Bandera und Rebet bekamen eine ganz neue Dimension, als in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 (in der gleichen Nacht, in der die Berliner Mauer errichtet wurde) der sowjetische Agent Bogdan Staschinski und seine Frau, eine Ostdeutsche, nach Westberlin flohen und sich den Behörden stellten. Bei seinem Prozess in Karlsruhe im Herbst 1962 schilderte Staschinski detailliert die beiden Morde. Er wurde zu acht Jahren Gefängnis verurteilt (das Gericht begründete diese milde Strafe damit, dass er nur ein «Instrument des eigentlichen Verbrechers», also der sowjetischen Regierung, gewesen sei).

Staschinskis Prozess erregte enorme Aufmerksamkeit und beeinflusste die internationale Politik, die Methoden der sowjetischen Geheimdienste und sogar die Massenkultur. Die Enthüllungen über den Bandera-Attentäter beendeten die politische Karriere des ehemaligen KGB-Chefs Alexander Schelepin und zwangen die UdSSR, die Praxis der Ermordung politischer Gegner im Ausland vorübergehend aufzugeben. Staschinskis Geschichte regte sogar die «Tötungstechnik» in einem der James-Bond-Romane an. Und natürlich trug der ganze Prozess wesentlich dazu bei, dass Bandera zu einem Symbol des Kampfes für die ukrainische Unabhängigkeit und zu einem Opfer des sowjetischen Terrors wurde.

Der Name wird zum metonymischen Ausdruck

Sowohl die internationale Aufmerksamkeit beim Staschinski-Prozess als auch die Aktivität der sowjetischen Propaganda (die Bandera selbstbewusst mit dem Status des «Antihelden Nummer eins» ausstattete) trugen dazu bei, dass Bandera zu einem metonymischen Namen wurde. Der Begriff «Banderivci» bezeichnete bald alle ukrainischen Nationalisten oder – in denunziatorischer Absicht – alle Bewohner der Westukraine oder die Ukrainerin und den Ukrainer, die die ukrainische Sprache sprechen. Es ist hier wichtig zu betonen: Allein der Begriff «Banderivec» kann nicht neutral sein. Er ist zwangsläufig ideologisch aufgeladen – sei es positiv oder negativ.

Das öffentliche Gedenken an Bandera in der Ukraine wurde erst in den frühen neunziger Jahren, nach dem Zusammenbruch der UdSSR, möglich. In den Städten der drei westukrainischen Regionen – Lwiw, Ternopil und Iwano-Frankiwsk – entstanden Bandera-Denkmäler (es sind inzwischen vierzig an der Zahl), Strassen wurden nach ihm benannt.

Unter allen ukrainischen Präsidenten (einschliesslich Janukowitsch) gab Kiew stillschweigend seine Zustimmung zur lokalen (westukrainischen) Heiligsprechung der UPA, die in erster Linie die Erinnerung an den antisowjetischen Untergrundkampf der Nachkriegszeit und die sowjetischen Repressionen gegen die lokale Bevölkerung lebendig erhalten sollte. Themen wie die terroristischen Praktiken der OUN im Polen der Zwischenkriegszeit, ihre Kollaboration mit Nazideutschland und die Ermordung friedlicher Polen in Wolhynien wurden marginalisiert oder totgeschwiegen. Währenddessen drehte sich die ukrainische öffentliche Diskussion über Bandera (oder, genauer gesagt, über die Bandera-Mythen) hauptsächlich um die sowjetisch-russische Achse. Polnische Deutungen und das ukrainische historische Gedächtnis wurden praktisch ignoriert.

Es war genau diese antirussische und antisowjetische Logik, die auf den ersten Blick erklärt, warum der abtretende Präsident Wiktor Juschtschenko nach der ersten, für ihn vernichtenden Runde der Präsidentschaftswahlen 2010 Bandera postum den Titel «Held der Ukraine» (was übrigens eine Kopie der höchsten Auszeichnung der Sowjetunion ist) für seinen «unzerstörbaren Geist bei der Verteidigung der nationalen Idee, sein Heldentum und seine Aufopferung im Kampf für den unabhängigen ukrainischen Staat» verlieh. Nach dem zweiten Wahlgang und dem Sieg von Wiktor Janukowitsch erklärte das Donezker Bezirksverwaltungsgericht Juschtschenkos Dekret für nichtig mit der Begründung, dass nur ein Bürger der Ukraine – was Bandera nicht war – den Titel eines «Helden der Ukraine» erhalten könne.

Jedenfalls war Juschtschenkos Dekret der erste Schritt in Richtung eines gesamtukrainischen Gedenkens an Bandera. Der nächste wichtige Schritt war der Maidan von 2013 bis 2014. Zusammen mit Vertretern rechtsradikaler Parteien, die bewusst ein positives Bild von Bandera propagierten, begannen viele Unterstützer des Maidan, sich als «Banderivci» zu bezeichnen. Offenbar wollten sie damit ihre Ablehnung der offiziellen russländischen Propaganda betonen, die den Maidan als «faschistischen Putsch» darstellte. Indem sie (sogar ironisch) den Propagandastempel der «Banderivci» als positive Selbstbeschreibung akzeptierten, tappten diese Leute in eine ideologische Falle und bestätigten unfreiwillig genau jene Propaganda, die sie verspotten wollten.

Die Verbreitung der rot-schwarzen Flagge der UPA und die Legitimierung des Slogans der OUN, «Ruhm der Ukraine! Ruhm den Helden!», gehörten zu den symbolischen Erfolgen des Maidan. Während des proeuropäischen Massenprotests erhielt dieser Slogan eine neue Bedeutung und wurde zu einer Loyalitätserklärung für den ukrainischen Staat. Etwas Ähnliches geschah mit der Position von Bandera im öffentlichen Diskurs. Serhi Jekelchik weist darauf hin, dass Bandera im Euromaidan eine neue Bedeutung als Symbol des Widerstands gegen das korrupte, von Russland unterstützte Regime erlangte. Banderas historische Rolle als Verfechter eines exklusiven Ethnonationalismus sei dabei in den Hintergrund gerückt. John-Paul Himka stellte angesichts dieser Praxis die eindringliche Frage: «Ist es möglich, das nationalistische Erbe als nationales Erbe anzunehmen und seine dunkle Seite einfach zu vergessen?»

Kritik aus allen Ecken

Es ist wichtig, zu sehen, dass weder die Befürworter noch die Gegner der Heroisierung Banderas in der heutigen Ukraine eine homogene Gruppe bilden. Die Kritik am positiven Bandera-Bild kommt aus allen politischen Ecken: von den Kommunisten bis zu den Liberalen, von den Unterstützern Putins bis zu den Befürwortern eines europäischen Kurses. Dies führt zu zwei wichtigen Schlussfolgerungen. Erstens: Die Kritik an Bandera bedeutet nicht per se eine Unterstützung demokratischer Werte oder ein Bekenntnis zur Sowjetnostalgie. Zweitens: Aufgrund der extremen Politisierung des Themas muss jede Aussage zu Bandera sorgfältig kontextualisiert werden.

Nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges im Donbas ging das Gedenken an Bandera im öffentlichen Raum zum ersten Mal über das Territorium der Westukraine hinaus. Im Sommer 2016 benannte der Kiewer Stadtrat den Moskauer Prospekt programmatisch in Bandera-Prospekt um. Im Juli 2018 rief der Regionalrat der zentralukrainischen Region Schitomir das Jahr 2019 zum «Bandera-Jahr» aus. Im vergangenen Jahr wurde die rot-schwarze Flagge der UPA vor dem Gebäude der regionalen Staatsverwaltung in Dnipro gehisst (zusammen mit der Staatsflagge der Ukraine und der genehmigten regionalen Flagge). Diese Entscheidungen sind umso kurioser, als nationalistische politische Parteien, die sich direkt auf die Tradition der OUN berufen, in der heutigen Ukraine keine ernsthafte Wählerunterstützung haben und nicht nur in der Werchowna Rada, sondern auch in vielen Regional- und Stadträten, sogar in westukrainischen Regionen, nicht vertreten sind.

Sowohl die negative als auch die positive Stereotypisierung von Bandera findet in schrillen Tonlagen statt. Dazu tragen die jährlichen Fackelmärsche rechter Gruppen am 1. Januar (Banderas Geburtstag), die wiederholte Schändung des Bandera-Grabes in München und die häufigen Hinweise auf «Banderivci» durch Putin und Kreml-Propagandisten bei. Solche Manifestationen – ob mit «Plus» oder «Minus» – sind eine gemeinsame Ursache für die Aktualisierung des Mythos.

Diese Aktualisierung nützt sowohl den Anhängern des Bandera-Kults als auch seinen Zerstörern. Sie macht eine offene Diskussion über das Thema (fast) unmöglich. Der moderne Diskurs pro und contra Bandera findet meist in einem exaltierten Stil à la Donzow statt. Möglicherweise unterdrückt die Lautstärke der Auseinandersetzungen um Bandera die Tatsache, dass die historische Figur Bandera keineswegs zentral für die ukrainische Geschichte ist und dass die positiven und negativen Mythen um seine Person nicht der Schlüssel zum Verständnis der sozialen und politischen Phänomene der heutigen Ukraine sind.

Andrii Portnov ist Professor für Entangled History of Ukraine an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder.

8 Kommentare
Werner Moser

Dieser Beitrag fächert eine erstaunliche Vielfalt einer historischen Figur auf, welcher auf beeindruckende Weise aufzeigt, wie auf sehr komplexe Weise daraus eine ideologische Aufladung entstehen kann, die offenbar bis in die heutige Zeit fatale Konsequenzen für eine politische Kultur haben kann. Wie das hier für die Ukraine der Fall zu sein scheint. Dabei fällt besonders auf, wie die Wirkung einer Mythologie die Kraft wahrer Historie schmerzhaft verdrängt. Ein Musterbeispiel dafür, dass man sich vor Mythologien historisch wappnen muss, um diese zu begreifen. Sehr guter Beitrag. Besten Dank dafür!

M. K.

Die Verbrechen, die von der OUN begangen wurden, werden nach den gleichen Methoden auch heute noch in diversen Konflikten begangen. Und auch heute ist es noch so, das je nach Standpunkt diese Leute als Helden oder eben als Mörder beurteilt werden. So wie es der jeweiligen Seite und ihren Interessen dient. Hier am Beispiel an einer Figur aus der Vergangenheit. 

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