Das Ende des Stummseins – Seite 1

Als Belarusin über Belarus zu sprechen, bedeutete bis vor Kurzem, immer wieder von vorn anzufangen. Sich stets zu wiederholen. Immer wieder dieselbe Frage zu beantworten: Wie ist es, in einer Diktatur zu leben? Mehr wollte man in Deutschland über die Jahre nicht wissen.

Ich werde dort anfangen, wo ich aufgehört habe zu sprechen. An dem Punkt, wo ich als Belarusin verstummt bin. Denn jedes ausgesprochene Wort über Belarus schien mir ein Wort zu viel zu sein. Ein Wort zu viel für eine Diktatur, die ihre Daseinsberechtigung und ihre Coolness darin finden konnte, dass in Demokratien so herzlich darüber gestaunt wird, wie grau der Himmel über Belarus ist, während die Straßen dennoch sauber sind und die Frauen schön. Staat ohne Bürger:innen. Glück ohne Freiheit. Menschlichkeit ohne Menschenwürde. Stadt. Land. Fluss. Und Moore. Was für ein Erfolgsmodell!

Katja Artsiomenka wurde 1983 in Minsk geboren. Sie ist freie Radiofeature-Autorin und seit dem Wintersemester 2019/20 Professorin für Journalismus an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) in Köln. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie unter anderem mit dem Europäischen CIVIS-Medienpreis ausgezeichnet. © Fahri Sarimese

Ich weiß noch ganz genau, wann ich verstummte – 2017, als Alexander Lukaschenko darüber sprach, dass der belarusische Sicherheitsapparat verkleinert werden könnte. Wie groß er tatsächlich war und ist, darüber wird bis heute spekuliert. Es ging um die "Optimierung" der Sicherheitsstrukturen, wie es damals offiziell hieß. Lukaschenko schien sich in Belarus sicher zu fühlen. Und zwar so sicher, dass sich die Belarus:innen über etwas weniger Sicherheitskräfte freuen dürfen sollten. Mit der Bezeichnung "Letzter Diktator Europas" konnte Lukaschenko offenbar wunderbar leben. Aber "Polizeistaat"? Das kratzte schon am Selbstbewusstsein. Teile und Herrsche ist ganz sicher nicht Lukaschenkos Credo.

Zwei Jahre zuvor, 2015, fanden Präsidentschaftswahlen statt. Lukaschenko gewann mit über 80 Prozent der Stimmen. Kurz davor: die Krim-Annexion. Direkt danach: die Furcht vor den "grünen Männchen" aus Russland. Die Hauptsache-kein-Krieg-Überlebensstrategie und -rhetorik verhalfen Lukaschenko wieder zum Sieg. OSZE und Medien berichteten über die üblichen Seltsamkeiten und Auffälligkeiten des Wahlvorgangs. Als Erster gratulierte Wladimir Putin. Die EU hob die meisten Sanktionen auf. Dafür durften nun die Europäer:innen visumfrei fünf Tage lang die Graustufen des belarusischen Himmels, die Schönheit der Frauen und die Sauberkeit der Straßen selbstständig begutachten und feststellen, dass der Himmel in Belarus doch auch blau ist.

"Menschlich" wollten die Belarus:innen leben. "Па-чалавечы" – heißt es auf Belarusisch. Ein Ausdruck, der sowohl in den offiziellen Ansprachen von Lukaschenko als auch in Alltagsgesprächen der Menschen häufig auftauchte. "Belarus will menschlich behandelt werden", lautete die offizielle Forderung an die EU und Russland.

Was "menschlich" allerdings im Alltag bedeutete, konnte man ausschließlich aus dem Gegenteil davon ableiten. Eigene Rechte zum Beispiel vor Gericht zu verteidigen: Das sei doch ganz "unmenschlich". Es ließe sich sicherlich auch anders regeln – irgendwie "menschlich". Wozu die Gewaltenteilung? Wozu die Öffentlichkeit? Wozu die Zivilgesellschaft? Das Leben lebt sich auch ohne. Ganz menschlich. Ganz natürlich. Unpolitisch. Staat ohne Bürger:innen. Glück ohne Freiheit. Menschlichkeit ohne Menschenwürde. Stadt. Land. Fluss. Und Moore. 2017 dachte ich noch in einem Radiofeature darüber nach. Dann hörte ich auf, öffentlich darüber zu reden. Gegen diese belarusische "Menschlichkeit" fühlte ich mich machtlos.

2020 hat alles geändert. In Deutschland über Belarus zu sprechen, bedeutet jedoch weiterhin, von vorn anzufangen. Auch wenn die Fragen inzwischen etwas zahlreicher geworden sind: Wieso jetzt? Was tun? Was nun? Wie lange noch? Und natürlich: Warum stehen Frauen an der Spitze der Proteste? Dazu kommt die quantitative Vermessung des belarusischen Protests und die stetige Bewertung seines Ausmaßes: Wie viele wurden festgenommen, wie viele sind gestorben, wie viele wurden gefoltert, wie viele gelten nun offiziell als politische Gefangene? Noch nie hat Belarus in Deutschland so viel Aufmerksamkeit bekommen. Quantitativ gesehen. Und es scheint zugleich, als ob damit über Belarus alles gesagt wurde und alles erzählt worden ist. Was bleibt, ist, sich wieder und wieder zu wiederholen.

Meine Stimme der Vernunft staunt

Geblieben ist auch diese Haltung, über eine Diktatur zu staunen und sich in diesem Staunen zu verlieren. So twitterte @ARD Moskau am 29.12.20: "Zur Stunde findet in Minsk der Neujahrsball statt (nicht zu verwechseln mit einem Maskenball). Er sei überzeugt, sagte Lukaschenko vor dem Walzer, dass 'unsere Kinder bald nicht mehr den ausländischen Telegram-Kanälen zuhören, sondern der Stimme der Vernunft'." Dazu veröffentlichte @ARD Moskau ein Video aus dem Telegram-Kanal des belarusischen Staatsfernsehens Pul Pervogo. "Lukaschenkos Welt 2020", "Parallelwelt", "wie in anderem Universum" "wtf wie realitätsfern", kommentierten die Stimmen der Vernunft in Deutschland die Bilder von walzenden Empire-Silhouetten und retweeteten Lukaschenkos frohe Botschaft.

Meine Stimme der Vernunft staunt auch. Ich möchte aber nicht wieder bis zum Verstummen staunen, während in den Wohnhöfen und Stadtvierteln täglich "Maskenbälle" mit den (Un-)Sicherheitskräften von Omon in der Hauptrolle stattfinden. Willkürlich werden die Belarus:innen in ihren Stadtteilen von den Vermummten festgenommen, mit einer Waffe bedroht oder zusammengeschlagen. Über 60.000 Menschen fordern in einer Petition die internationale Gemeinschaft auf, diese Polizeieinheit in die Liste der Terrororganisationen aufzunehmen.

Ich möchte verstehen, was es tatsächlich bedeutet, dass die EU Lukaschenko als Präsidenten nicht anerkennt. Ich frage mich, was passiert mit bestehenden zwischenstaatlichen Verträgen, und was hat sich in zwischenstaatlichen Beziehungen verändert? Und wieso werden die Belarus:innen, die gegen Lukaschenko protestieren, als Regierungskritiker:innen, Regierungsgegner:innen oder Opposition bezeichnet, wenn es in Belarus keine legitime Regierung gibt? Ich möchte wissen, ob es bei dieser Nicht-Anerkennung nur um eine ausschließlich symbolische Geste geht, die eigentlich gar nichts bedeutet. Eine Auflistung von Sanktionen gibt keine hinreichenden Antworten darauf, sondern sie zeigt, dass Lukaschenko seine Legitimation auf der EU-Ebene lediglich in einigen Punkten verloren hat.

Zugleich beobachte ich, wie Deutschland Belarus beobachtet, und erfahre viel über Deutschland. Belarus scheint eine perfekte Projektionsfläche für so ziemlich alles und alle zu sein. Angefangen bei AfD-Anhänger:innen oder/und Corona-Leugner:innen, die in den sozialen Netzwerken appellieren, nach Belarus zu schauen – um zu lernen, wie sie dann anschließend die angebliche Diktatur in Deutschland bekämpfen können. Bis hin zu schiefen Vergleichen mit den ukrainischen Majdan-Protesten oder mit der friedlichen Revolution in der DDR. Vergleiche, die mal als Warnung, mal als Nostalgie verkleidet daherkommen. Vergleiche, die Diktaturen und Demokratien als starre Konstrukte betrachten, die sich in zeitlichen und räumlichen Kontexten nicht verändern und sich gegenseitig nicht beeinflussen.

Es ist nicht an der Zeit, in den Vergangenheiten herumzuwühlen, solange die belarusische Diktatur in der Gegenwart existiert und mutiert. Nicht nur der Sturm auf das US-Kapitol sollte als Warnung für die liberale Demokratie verstanden werden, sondern auch die Existenz von Diktaturen. Sie befinden sich nicht in Parallelwelten, sondern existieren in der Gegenwart. Diese Realität zu erkennen, bedeutet zu sehen, vor welcher Wahl in einer Diktatur wie der belarusischen die Menschen stehen, die eigentlich gar keine Wahl haben und es dennoch schaffen, ihren Willen seit über fünf Monaten täglich der ganzen Welt mitzuteilen. Sehr klar und mit Anstand.

Lukaschenko ist möglich, nicht weil sich die Belarus:innen dafür entschieden haben, sondern weil diese Diktatur in der globalisierten, vernetzten Welt möglich ist. Denn keine Diktatur wäre heute überlebensfähig, wenn sie nicht genug Unterstützer:innen hinter ihren Eisernen Vorhängen hätte. Nicht nur hat Lukaschenko vor wenigen Tagen René Fasel, den Präsidenten des Internationalen Eishockey-Verbands (IIHF), in Minsk in aller Herzlichkeit umarmt: René Fasel umarmte nicht weniger herzlich den Diktator und kündigte an, dass Sport und Politik nichts miteinander zu tun hätten. Was soll denn so schlimm daran sein, eine Eishockey-Weltmeisterschaft mit einem belarusischen Eishockey-Liebhaber zusammen zu veranstalten?

Offenbar scheint es im Westen unmöglich zu verstehen, dass Belarus:innen weder für Jeans und Coca-Cola noch für die europäische Integration auf die Straße gehen. Als ob es nicht zu fassen wäre, dass sie sich selbst beigebracht haben, klar zwischen Freiheit und Sicherheit abzuwägen. Und zwar ohne zu vergessen, dass in diesem Dilemma die Menschenwürde die Bezugsgröße ist und nicht die Freiheit oder die Sicherheit. Freiheit und Sicherheit sind tückische Begriffe. Und wofür sie stehen, hängt auch in Deutschland davon ab, wie die Gesellschaft sie definiert, welche Maßstäbe sie dafür setzt, und wie standhaft sie dabeibleibt. Nach Belarus zu schauen und Belarus:innen zu sehen – aus der Gegenwart heraus und auf Augenhöhe –, könnte auch für liberale Demokratien sehr erkenntnisreich sein.