Trotz brutaler Einschüchterung durch das Regime gehen die Menschen in Belarus seit bald fünf Monaten auf die Straße.

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In Belarus (Weißrussland) war 2020 ein Jahr des Wandels. Wie es weitergeht, ist offen. Schon 21 Wochen lang zeigen große Teile der Bevölkerung, dass sie nicht länger Bürger der "letzten Diktatur Europas" sein wollen. Sie fordern die Einhaltung demokratischer Rechte und die Wahrung ihrer Menschenwürde. Seit der Präsidentschaftswahl am 9. August wird wöchentlich gegen Alexander Lukaschenko demonstriert, der das Land seit 26 Jahren mit harter Hand regiert. Als Zeichen des Unmutes ließ man am Sonntag Luftballons über der Hauptstadt Minsk schweben.

Lukaschenko hat zwar mehrfach beteuert, dass er die politische Verantwortung leid sei, aber auch, dass er Belarus nicht einfach "seinem Schicksal" überlassen wolle. Für die Volksversammlung im Februar hat er gar Reformvorhaben angedeutet. Dass inzwischen weniger Menschen auf die Straßen gehen als zuvor, liegt aber nicht an Reformen, sondern an der Brutalität, mit der das Regime gegen sie vorgeht. Seit August gab es nach Uno-Angaben bei den Protesten mehrere Tote, hunderte Verletzte und fast 30.000 Festnahmen. Die Situation habe sich zuletzt verschlechtert. Protestierende und Journalisten werden häufiger zu langen Haftstrafen verurteilt, warnte die Uno im Dezember. Zudem habe es seit Oktober rund 2.000 Beschwerden wegen Folter und Misshandlungen in Gewahrsam gegeben. Immer mehr Menschen fliehen ins Ausland. Zehntausende haben laut Oppositionsangaben in der Ukraine Zuflucht gesucht.

Swetlana Tichanowskaja, die von der Demokratiebewegung als Wahlsiegerin gesehen wird und selbst im Exil lebt, rief kürzlich dazu auf, weitere Verbrechen der Beamten zusammenzutragen, damit diese angezeigt werden könnten.

Die Listen, sagt sie, seien auch für Sanktionen wichtig. Doch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sieht den Nutzen der Strafmaßnahmen skeptisch. Der EU fehle der Einfluss auf das Regime. Zudem gelte es, Minsk nicht noch weiter in die Arme Moskaus zu treiben. Kürzlich wurde bekannt, dass nun die russische Nationalgarde Lukaschenko bei der Wahrung der "öffentlichen Ordnung" unterstützten solle. Die Demokratiebewegung selbst wird nicht leid zu betonen, dass es ihr nicht um die EU oder Russland gehe, sondern um Menschenrechte und Wählerwillen. Ein entscheidender Faktor für die Zukunft Lukaschenkos ist sein Rückhalt bei den Sicherheitsbehörden. Laut Schätzungen haben seit August bis zu 20 Prozent der Beamten gekündigt. 2021 wird in Belarus das Jahr für eine Wiederherstellung der Gesetze und der Gerechtigkeit – glaubt Tichanowskaja.

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Masha und Artyom über die eiserne Faust des Staates

Masha hatte die Hoffnung auf Veränderung längst verloren. Die 40-jährige Belarussin und ihr Mann Artyom (Namen von der Redaktion geändert) hatten an vielen Protesten gegen Lukaschenko teilgenommen, die brutal zerschlagen wurden. Zuletzt 2010. Umso größer war die Euphorie, als die beiden im August gemeinsam mit hunderttausenden, meist jungen Landsleuten friedlich einen Systemwechsel forderten. Dass sie mit ihrem Wunsch nach Mitbestimmung nicht alleine waren, berührte sie zutiefst, erzählt Masha dem STANDARD. Das Paar gab seine zwei Töchter, so oft es ging, in die Obhut der Großeltern, um auf die Straße gehen zu können. Bis zu jenem Septembertag, an dem Artyom nicht mehr heimkam.

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Er hatte sein Handy zu Hause gelassen, denn wer an den Protesten teilnimmt, will nicht riskieren, dass die Polizei darauf gespeicherte prooppositionelle Inhalte findet. Spätnachts erfuhr Masha von Artyoms Festnahme. Als sie ihn erreicht, erzählt er, dass er an einer friedlichen Protestaktion im Minsker Zentrum teilgenommen hätte. Als ein Bus der berüchtigten "Oliven" aufgekreuzt sei, hätten alle Anwesenden die Flucht ergriffen. "Oliven" werden jene Polizisten genannt, die in olivgrüner Uniform, aber ohne weitere Kennzeichen auftreten. Offenbar gehören auch Handschuhe mit Metallplatten zu deren Uniform: Artyom erlitt einen beidseitigen Kieferbruch sowie einen Bruch seines linken Armes.

Ein Strafverfahren wird gegen Artyom eingeleitet. Er habe die Aktion organisiert und Beamte attackiert, heißt es darin, obwohl Videos das Gegenteil zeigen. Ihm drohen fünf Jahre Haft. Alle Versuche, sich gegen die Vorwürfe zu wehren, scheitern. Artyom, der auch mit einer Ausreisesperre belegt wird, sieht sich gezwungen, illegal das Land zu verlassen. Er lässt sich an die ukrainische Grenze bringen, dann rennt er.

Masha und die Kinder treffen ihn in Kiew. Im Gepäck nur das Nötigste und ein paar Erinnerungsgegenstände. Sie suchen um Asyl in Tschechien an, die Chancen stehen gut: Im November bekommt die Familie eine Einreiseerlaubnis, in Prag wird Artyom medizinisch versorgt und ist in Traumatherapie. Solange Lukaschenko im Amt ist, gibt es für sie kein Zurück.

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Iwan Kolas über den Rückhalt des Regimes im Sicherheitsapparat

"Wir haben einen Schwur abgelegt, dass wir dem belarussischen Volk dienen, stattdessen dienen wir nur einem Menschen": Lukaschenko. Mit dieser öffentlichen Videobotschaft warf der Polizist Iwan Kolas als einer der Ersten nach der Wahl das Handtuch. Auch er hatte auf einen Sieg der Opposition gehofft. Er stand seit 2015 im Polizeidienst und war schockiert, dass seine Aufgabe nicht die Wahrung der Gesetze, sondern die Ausführung der Staatswillkür war, erzählt Iwan.

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Unmittelbar vor dem Urnengang habe es dann regelmäßig interne Trainingseinheiten für das auseinandertreiben von Menschenmassen gegeben. Ihm sei schlagartig klar geworden, dass Lukaschenko alles tun würde, um an der Macht zu bleiben. Am Wahltag selbst hatte Iwan Dienst vor einem Wahllokal. Seinem Bekunden zufolge trugen die meisten Wähler weiße Bändchen, um ihre Unterstützung für Tichanowskaja zu zeigen. Dennoch hieß es am Abend, Lukaschenko habe dort 90 Prozent der Stimmen erhalten. Danach wurde Iwan ins Zentrum gerufen, wo nach Ausrufung der Wahlergebnisse friedliche Massenproteste stattfanden.

Seine Chefs hätten dennoch den Befehl gegeben, Demonstranten zu verhaften. Diesen habe er verweigert, einen Festgenommenen habe er an Ort und Stelle freigelassen. Dass einige seiner Kollegen Verhaftete misshandelten, bestätigt Iwan. Deshalb habe er entschieden, zu handeln: Am 12. August nahm er eine Videobotschaft auf und forderte darin, man solle von der Gewalt ablassen. Kurz nach dessen Veröffentlichung standen plötzlich seine nunmehr ehemaligen Kollegen vor der Tür. Iwan floh noch in derselben Nacht via Russland in die Ukraine und gelangte danach dank eines humanitären Visums nach Polen.

Auch wenn er fliehen musste, bereut Iwan seinen Schritt nicht. Wohl aber, dass die Behörden nun seine Eltern finanziell unter Druck setzen. Viele Polizisten hätten es ihm gleichgetan, sagt Iwan. Aber er zeigt sich enttäuscht – wenn auch nicht verwundert –, dass viele andere Lukaschenko weiterhin unterstützen. "Leider arbeiten oft nicht die Hellsten meiner Landsleute bei der Polizei", meint er dazu.

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Mikalai Prakofyeu über wirtschaftlichen Ruin

Mikalai Prakofyeu konnte kaum schlafen vor Angst. Er fürchtete sich vor einem Klopfen an der Tür und davor, dass Polizeiknüppel das Letzte sein würden, was er sieht. Es war Anfang November, Bekannte bei den Sicherheitsbehörden hatten ihn gewarnt, dass er und sein Vater bald mit einer Ausreisesperre belegt würden. Und einem Haftbefehl.

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So war es im Herbst vielen ergangen, die sich wie Mikalai vor der Wahl für den Oppositionskandidaten Wiktor Babaryka engagiert hatten. Weil Babaryka im Juli festgenommen wurde, stellte sich Mikalai nach der Wahl auf die Seite der hunderttausenden Demonstrierenden. Und noch etwas dürfte den Behörden ein Dorn im Auge gewesen sein, erzählt Mikalai: Die Prakofyeus sind eine einflussreiche Unternehmerfamilie in Gomel, der zweitgrößten Stadt des Landes. Zu ihrem Imperium gehörten Restaurants und Geschäfte. Während der Proteste verteilten sie Gratisessen und Stoffe für Flaggen: rote und weiße, jene Farben, die für den Systemwechsel stehen. Als Tichanowskaja den 26. Oktober zu einem Tag des Generalstreiks ausrief, unterstützten die Prakofyeus diesen offen – anders als viele andere Privatbetriebe.

Am nächsten Tag wurde der Vater vor Gericht zitiert, um eine Strafe zu bezahlen. Indes erteilten die Sanitätsbehörden Ladenschließungsbefehle – aus fadenscheinigen Gründen wie dreckigen Tellern im Geschirrspüler. Zudem wurden die Ladenmietverträge plötzlich aufgekündigt. Die Familie realisierte, dass es der Staat auf ihre Einnahmequellen abgesehen hatte. Und sie vermutete, dass sie in den Ruin getrieben werden sollte, bis sie ihre Kredite bei der Staatsbank nicht mehr bedienen kann. Das wird in Belarus als Diebstahl mit sieben Jahren Haft geahndet. Am Folgetag wurde die Familie mit einem Bankschreiben zur sofortigen Rückzahlung aller Kredite aufgefordert. Zudem wurden ihre Konten gesperrt. Sie floh überstürzt nach Kiew, dann weiter nach Polen, wo sie einjährige Visa bekam. Mikalai fühlt sich dort zwar sicher, aber er sorgt sich um die Zukunft. Er fürchtet auch, dass das Exempel seiner Familie andere Unternehmer davon abhalten könnte, sich hinter die Proteste zu stellen. (Flora Mory, 29.12.2020)