Wie sollte die EU auf Putins Krieg gegen die Ukraine reagieren?

Rebecca Harms in Kyjiw. Foto: KG, Sasha Gulich

Sechs Jahre nach der Krim-Annexion und dem Beginn der russischen Aggression im Donbas bleibt die Frage aktuell, wie sich die EU konsequent und wirkungsvoll gegenüber Wladimir Putin verhalten soll. Unsere Schirmherrin Rebecca Harms erinnert in einem persönlichen Gastbeitrag an die hybriden Strategien des Kreml, die von Anfang an in diesem Krieg eine Rolle gespielt haben: Vom verdeckten Angriff auf die Krim bis hin zur Vertuschung der Wahrheit rund um den Abschuss von MH-17. Das unter solchen Umständen immer wieder öffentlich über die Zweckmäßigkeit von Sanktionen diskutiert wird, schwächt die europäische Antwort auf Putins unerklärten Krieg gegen die Ukraine.   

Von Rebecca Harms

Ende Februar 2014 begann auf der Krim die russische Invasion der Ukraine. Am 23. Februar floh der ukrainische Präsident Wiktor Janukowytsch aus Kyjiw. Durch seine Flucht entzog er sich der Verantwortung für die Opfer der Gewalt, die gegen die pro-europäischen Proteste auf dem Maidan angewandt wurde.

Die Propagandaabteilung des Kremls machte aus seiner Flucht nach Russland und der anschließenden Wahl eines Übergangspräsidenten durch das ukrainische Parlament einen „faschistischen Putsch“. Schon am Tag nach dem Verschwinden von Janukowytsch erklärte Putin, dass man Vorkehrungen treffen müsse, um die ukrainische Halbinsel Krim zurück nach Russland zu holen.

Als Ende Februar 2014 immer mehr russische Soldaten auf der Krim auftauchten, wurde in der internationalen Berichterstattung von ‚grünen Männchen‘ gesprochen. Der Verzicht auf Hoheitszeichen an den Uniformen der russischen Soldaten sollte die russische Beteiligung herunterspielen und diente der Unterfütterung der Lüge, dass die kurz nach der Invasion folgende Annexion der Halbinsel nicht erzwungen, sondern demokratisch legitimiert sei. Es sei schließlich ein „Referendum“ durchgeführt worden. Dass dies ohne die Anwesenheit russischer Soldaten gar nicht möglich gewesen wäre, hat Putin ein Paar Jahre später selbst zugegeben.

Weltweit wurde über die ‚grünen Männchen‘ und eine anonyme Armee berichtet. Weltweit wurde in den Nachrichten oft der Konjunktiv benutzt, wenn es um die russische Invasion ging. Dieses meist unabsichtliche Mitwirken in der russischen Tarnoperation hatte nicht nur kurzfristige Wirkung. Noch heute, im nun siebten Jahr des russischen Krieges gegen die Ukraine, wirkt die von Moskau beabsichtigte Verwirrung in der westlichen Öffentlichkeit erschreckend erfolgreich.

Putin hat den Krieg nie erklärt. Seine Propagandaerzählung über einen „faschistischen Putsch“ in Kyjiw, der damit verbundenen Gefahr für russischsprachige Bürger der Ukraine, die sich „gegen die neuen Faschisten zur Wehr setzen mussten“ und deshalb auf der Krim freiwillig für die „Angliederung“ stimmten, hat bis heute Resonanz, auch wenn sie für einige abgedroschen klingt. Diese Lüge ist eine Säule der russischen Desinformationskampagnen.

Systematische Falschinformation ist Teil der russischen Kriegsstrategie und soll sowohl die Ukrainer als auch ihre Partner in der EU verunsichern und in die Irre führen. Die Reichweite des russischen Fernsehens und der neuen Propagandakanäle im Ausland zeigen den Einfluss der Lügen und Halbwahrheiten auf die Meinungsbildung. Die Bereitschaft, den Krieg, weil er von Russland nicht erklärt wurde, als eine Art Bürgerkrieg anzusehen, und die Lüge Moskaus über den Putsch in Kyjiw zu glauben, ist größer als von den Strategen in Russland erhofft. Im alten Europa zeigt sich, dass fehlendes Wissen über große Teile der Geschichte unseres Kontinentes im letzten Jahrhundert dem Kreml zugutekommt.

Nach sechs Jahren Krieg muss immer noch klargestellt werden, dass Putin Krieg führen lässt gegen die Ukraine, weil diese zurecht auf ihrer Souveränität besteht. Widerspruch und Aufklärung zur russischen Propaganda müssen sein und sind Teil auch unserer eigenen Verteidigung. Wer den Desinformationskampagnen des Kremls und den Lügen von Russia Today oder Sputnik keine Paroli bietet, der wird die notwendige Zustimmung für eine starke Unterstützung der Ukraine oder auch nur die bisherigen Russland-Sanktionen nicht halten können.

Die Verheerungen des nie erklärten Krieges gegen die Ukraine sind bekannt. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die mit einer Beobachtungsmission entlang der Front im Donbas unterwegs ist, veröffentlicht täglich Zahlen zu den Gefechten, den Angriffen und Gegenschlägen, zu Toten und Verletzten in der ukrainischen Armee und der Zivilbevölkerung. Fast 14.000 Menschen haben auf der ukrainischen Seite ihr Leben verloren. Zahlen über die Opfer auf der russischen Seite werden geheim gehalten.

Ein malaysisches Flugzeug, der Flug MH17 mit 298 Menschen an Bord, wurde mit einer Rakete der russischen Armee abgeschossen. Wir wissen, dass Millionen Ukrainer aus dem Donbas und von der Krim geflohen sind. Das Leben der Menschen, die im Donbas geblieben sind und mit Krieg leben, ist besonders im Winter unerträglich. Leiden müssen besonders die Alten und die Kinder. Die Bilder von den Passierstellen entlang der Frontlinie zeigen uns Rentner aus dem besetzten Teil des Donbas, die für eine Auszahlung ihrer bescheidenen Renten strapaziöse Märsche auf sich nehmen und dann noch einen Teil davon an korrupte Grenzpolizisten abgeben müssen.

Von Psychologinnen, die mit Frauen und Kindern in der grauen Zone entlang der Frontlinie arbeiten, wird von den Folgen der Gewalterlebnisse berichtet. Die Infrastruktur ist zum Teil völlig zerstört. Schleichend entwickelt sich eine Umweltkatastrophe. An vielen Orten ist das Wasser nicht mehr trinkbar und es wird empfohlen, es nicht zu trinken. Oft gibt es kaum oder nur teure Alternativen. Selbst die Krankenhäuser in der grauen Zone haben oft kein sauberes Wasser. Als Folge der ungeplanten Stilllegung von Kohleminen und des unzureichenden Abpumpens der Schächte kommt es zu einer Vergiftung des Grundwassers und zu Erdrutschen. Große Flächen in der Kriegszone im Donbas sind vermint.

Auf der Krim lässt die russische Regierung Krimtataren terrorisieren, foltern, verfolgen und einsperren. Das gleiche geschieht allen Ukrainern, die trotz Besatzung offen dafür einstehen, dass die Krim ukrainisch ist. Der Austausch von großen Gruppen von Gefangenen zwischen Russland und der Ukraine, der für die Ukrainer eine große Erleichterung und Freude war, hat nicht dazu geführt, dass der Terror gegenüber den Tataren aufhört. Putins Wille, Russland wieder groß zu machen und die Ukrainer vom Weg nach Westen und in die EU abzubringen, ist der Anlass für den unerklärten Krieg mit all seinen Opfern.

Unter dem Druck des russischen Angriffs haben die Ukrainer seit 2014 Enormes geleistet. Zum Zeitpunkt des Angriffs war die ukrainische Armee runtergekommen, durch Korruption und Misswirtschaft schwach und überhaupt nicht gerüstet für die Verteidigung des Landes. Die freiwillige Abgabe der Atomsprengköpfe, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf ukrainischem Gebiet stationiert waren, wurde 1994 im Budapester Memorandum verankert. Die Ukrainer verließen sich seit dem Memorandum auf die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Russland, die als Schutzmächte die Souveränität des Landes garantieren wollten.

Die Schwäche der auch durch Korruption abgewirtschafteten ukrainischen Armee, die in Russland gut bekannt war, war 2014 eine Annahme in Putins Schlachtplan. Den Aktivisten auf dem Maidan im Winter vor dem Krieg war es um viele Reformen gegangen. Der Aufbau der ukrainischen Armee war nicht das, was auf dem Maidan im Zentrum stand. Zwischen den Freiwilligen, die im Frühling 2014 in Turnschuhen und mit einer Ausrüstung wie für einen Zelturlaub zur Verteidigung ihres Landes aufbrachen, und den erfahrenen Soldaten in der gut geführten Armee von heute liegen sechs Jahre Krieg.

Meine Besuche an der Front zwischen dem Frühsommer 2014 bis 2018 haben mich unter anderem zur Zeugin des Aufbaus einer neuen ukrainischen Armee gemacht, mit der Putin nicht rechnete und die infolge seines unerklärten Krieges entstand. Ich traf viele junge Leute an der Front, Männer wie Frauen, Soldaten und auch Freiwillige, die etwas anderes im Leben vorhatten als den Dienst in dieser Armee. Immer hatte ich dann den Wunsch, dass es ihnen gelingen möge, diese anderen, eigenen Ziele noch zu verwirklichen. Ihre Tapferkeit sollte dem Land und dem einzelnen dienen. Wenn ich heute mit Veteranen spreche, dann werden Zweifel am Einsatz und seinem Ziel auch unter denen laut, die immer wieder zurück an die Front gegangen sind. Weil ich zu denen gehöre, die weiter nicht an Friedensabsichten in Moskau glauben, denke ich, dass gegen diese Zweifel etwas getan werden muss.

Die Zweifel haben unterschiedliche Quellen. Das Gefühl, dass es ein ewiger Krieg bleibt, in dem die Soldaten und die einfachen Ukrainer besonders im Osten die Verlierer sind, spielt dabei eine Rolle. Das Gefühl erfasste auch mich so manches Mal und ganz besonders bei Besuchen wie im Kriegslazarett Metschnykow in Dnipro. Im Warteraum beten, weinen und warten Tag und Nacht verzweifelte zum Teil sehr alte Mütter. Sie haben nur den einen Wunsch, dass ihr Kind, ihr Enkel, der Soldat überlebt. In diesem Warteraum zwischen Leben und Tod holen sie ihre Jungs ab, wenn sie überleben. Manche, die überleben, können dann nicht gehen oder sehen, oder beides. Körperlich fehlt ihnen oft nichts – was jedoch fehlt, ist jede Vorstellung, wie das Leben nach dem Schützengraben weitergehen kann.

Die Ärzte im Metschnykow haben im Laufe des Krieges gelernt, auf dem Operationstisch Wunder zu vollbringen und können immer mehr Leben retten. So wie wir es aus anderen Kriegen und anderen Armeen kennen, hat es auch die Ukraine noch nicht vermocht, ausreichend für die Heimkehrer und Heimkehrerinnen zu sorgen. Die Verteidigung gegen den Angreifer steht im Mittelpunkt. Die fehlende Fürsorge für die Veteranen oder die hinterbliebenen Familien legt sich aber auf die Stimmung der Soldaten und Soldatinnen im Einsatz. Das kann sich die Ukraine nicht leisten. Es lässt sich ändern und muss sich ändern, denn nicht lange nach dem Normandie Gipfel im Dezember 2019, trotz Truppenrückzug- und Entflechtung, trotz des Neubaus der Brücke von Sjewjerodonezk kam es zu den heftigsten Eskalationen und Angriffen seit langer Zeit. Die Ukraine muss weiter auf ihre Armee bauen und darf sich nicht darauf verlassen, dass der Wunsch nach Frieden von Putin geteilt wird.

Der Wunsch nach Frieden, die Sehnsucht nach einem Leben ohne den Horror des Krieges, ist in der Ukraine groß. Das kann niemanden überraschen, der diesen Krieg kennt. Der Erfolg von Wolodymyr Selenskyj bei der ukrainischen Präsidentschaftswahl spiegelte neben vielen Wünschen auch diese Sehnsucht. Allerdings darf das nicht falsch ausgelegt werden. Die Mehrheit der Ukrainer will den Frieden nicht um den Preis der Unterwerfung unter Putins Bedingungen. In den westlichen Partnerländern der Ukraine vermögen viele Politiker und auch Bürger leider nicht, diesen Unterschied zu sehen. Eine Ursache dafür ist die ewig wiederholte und wirksame Lüge vom Bürgerkrieg und von der Ukraine als gespaltenem Land.

Die Freunde und Partner der Ukraine müssen sich sechs Jahre nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine neu über ihre Rolle verständigen. Aus dem Wunsch nach Frieden kann wenig werden, wenn es nur alle paar Jahre und mit einem neuen Präsidenten in Kyjiw einen Normandie-Gipfel gibt. Und Selenskyj allein kann das Versprechen nicht erfüllen. Wenn weiter von den Minsker Abkommen als gemeinsamer Basis ausgegangen werden soll, dann gehören die Schritte in den Mittelpunkt, die zu einer Verbesserung für die Menschen im Kriegsgebiet und einem Ende der Kämpfe führen können.

Der Einsatz für einen dauerhaften Waffenstillstand muss Priorität haben. Der Abzug russischer Waffen, Soldaten und Kämpfer und die Räumung der Minen ist unverzichtbar für jede Normalisierung – und erst recht für Wahlen in den von Russland, seiner Armee und seinen Milizionären beherrschten und terrorisierten Gebieten. Die Entflechtung entlang der Kontaktlinie, der Abzug von Waffen und Soldaten und auch die Entwaffnung von ukrainischen Bürgern im Donbas brauchen strengste internationale Aufsicht und langfristige Kontrolle. Die bisherige OSZE Mission kann das nicht gewährleisten. Gleichzeitig sollten die Ukraine und der Westen mehr das Wohlergehen der Menschen in den Kriegsgebieten verfolgen.

Es wäre auch für Präsident Selenskyj wichtig, die einfacher zu erreichenden Verbesserungen des Lebens im Donbas zu seinem Anliegen zu machen. Die Brücke bei Sjewjerodonezk ist ein Symbol dafür, dass es bei der Verteidigung gegen Russland nicht nur um das Territorium und die nationale Souveränität, sondern auch um die Menschen geht. Die große kollektive Freude in der Ukraine über die heimkehrenden Gefangenen zeigt, wie wichtig das ist.

Die Zweifel, die an ukrainischen Soldaten nagen, haben mit dem schleppenden Reformprozess und dem Misstrauen gegenüber den Kyjiwer Eliten zu tun. Die Zweifel der Soldaten, die auch die Menschen in Mariupol, Kramatorsk, Lwiw oder Uschhorod plagen, haben aber auch mit dem zu tun, was sie als Geschacher der Europäer empfinden. Die regelmäßig anschwellenden Debatten über die Russland-Sanktionen nähren diese Zweifel. Der öffentliche Streit um die Frage, ob die Sanktionen wirken oder nicht, schwächt diese Sanktionen, die für den Westen doppelt wichtig sind: Sie sind unsere nicht-militärische Antwort auf Putins Bruch und Ausdruck unserer Solidarität und Unterstützung für die angegriffene Ukraine. 

Die Eskalation im Asowschen Meer, die Verteilung russischer Pässe im Donbas oder der schwere Beschuss nach dem letzten Normandie-Gipfel müssten mit neuen Sanktionen anstatt mit Zweifeln an diesem Mittel beantwortet werden. Wer keine militärische Lösung will, der muss den anderen Weg konsequent gehen. Und wer Putin zum Waffenstillstand bewegen will, der darf ihm nicht mit Nordstream-2 oder anderen Geschäften signalisieren, dass die Verteidigung der Europäischen Friedensordnung den Geschäftsinteressen nachgeordnet ist. Wenn wir Putin mit genau diesen Geschäften das Geld für seine Aufrüstung verschaffen, ist das unvereinbar mit europäischen Sicherheitsinteressen.

Mit vielen anderen habe ich in den letzten Jahren oft gesagt, dass der Kampf gegen das System Putin von den Bürgern der Ukraine mit den demokratischen Reformen und dem Aufbau des Rechtsstaates entschieden werden wird. Dieser Weg ist eingeschlagen worden, ist aber lang und kann nicht reibungslos und geradlinig verlaufen.

Er wird auch erschwert, da das Assoziierungsabkommen mit der EU, das ein Motor für zum Teil schwierige und belastende Reformen ist, von vielen EU-Staaten als Alternative zur Mitgliedschaft in der EU ausgelegt wird. Es gehört zu den unbequemen Wahrheiten, dass dieses Stoppschild ohne Not hochgehalten wird. Wenn es Putin milde stimmen sollte, ist das bisher schief gegangen. Und es waren immer wieder auch Soldaten, die mir die Frage stellten: Warum wollt ihr uns nicht? In der Mitte des siebten Jahres mit Putins unerklärtem Krieg sehe ich die bleierne Last besser, die dieser Krieg für die Ukraine darstellt.

Wenn die Freunde der Ukraine in der EU wollen, dass die Ideen des Maidan Wirklichkeit werden, müssen sie schleunigst anfangen, hartnäckiger und Tag für Tag für das Ende der Kämpfe zu arbeiten. Es schien beliebt zu sein, auf Präsident Selenskyj und seine Friedensversprechen zu setzen, und ihn wiederum zu ermutigen, auf Normandie-Gipfel und Minsk zu setzen. Der Ukraine und dem Präsidenten wird aber nicht geholfen, wenn ihm statt robuster Unterstützung durch neue Sanktionen die Steinmeier-Formel und Nordstream-2 untergeschoben werden.

In der EU sind der Wille und Wunsch nach Frieden aus guten Gründen stark. Nach Putins Invasion in der Ukraine wurde deshalb eine militärische Lösung ausgeschlossen. Sechs Jahre später geht es aber weiter um die Frage, was wir zu tun bereit sind, was wir diplomatisch und ökonomisch investieren wollen in die Verteidigung der europäischen Friedensordnung und der Souveränität der Ukraine.

Rebecca Harms ist ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments (Die Grünen/EFA, 2004-19) und langjährige Schirmherrin der Kyjiwer Gespräche. 

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Zeitschrift New Eastern Europe erschienen.

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